Das Risikoparadox

Das Risikoparadox 1In Das Risikoparadox Warum wir uns vor dem Falschen fürchten beantwortet Ortwin Renn zwei Fragestellungen. ZUM EINEN erläutert er, warum wir uns vor Gefahren und Risiken fürchten, die nach bester wissenschaftlicher Erkenntnis wenig Schaden anrichten.

Anhand einiger Beispiele zeigt er zunächst auf, wie man anhand der Statistik in die Irre geführt werden kann, wenn man etwa liest, dass das Risiko einer Magenblutung durch die Einnahme eines Medikaments um 100% erhöht habe. Anders klingt die gleiche Aussage, wenn man angibt, dass bei 10.000 Patienten, die dieses Medikament eingenommen haben, die Zahl der Problemfälle von 1 auf 2 gestiegen sei.

Auch Framing suggeriert Risiken, etwa das berühmte halbleere Glas gegenüber dem halbvollen. Ebenso die Ambiguität, die Tatsache, dass ein und dasselbe Verhalten oder Aussage von verschiedenen Gruppen völlig anders bewertet wird, ist ein Faktor.

Problematisch ist weiterhin, dass der Unterschied zwischen Kausalität, Korrelation und Koinzidenz in der Bewertung von Risiken völlig durcheinandergewürfelt wird.

Die psychologischen und soziologischen Gründe für die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität sieht er darin, dass wir uns die Wirklichkeit erst sozial konstruieren. Erst durch den sozialen Kontext, vermittelt durch Sprache und Kultur bekommen unsere Wahrnehmungen eine Bedeutung. Deshalb gibt es in diesem Zusammenhang keine ‚objektive Wirklichkeit‘, sie ist immer ein Produkt unserer durch unsere Sinne aufgenommenen Reize und der mit diesen Reizen verbundenen Bedeutung, die wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben und weiterhin lernen.

Hinzu kommt, dass die Zuordnung von Ursachen zu Folgen ein grundlegendes Element unseres Denkens und Handelns ist. Dies blendet aber die Komplexität der Realität zunächst aus.

Bei allem ist darüber hinaus zu beachten, dass Gegebenheiten, die von Menschen als real wahrgenommen werden, auch zu realen Handlungen führen und damit reale Konsequenzen haben. Das macht die Sache nicht unbedingt leichter.

Bei der Abwehr von Risiken, die man nicht wahrnehmen möchte gibt es vier Mechanismen:

  1. Ignorieren
    Man lässt überhaupt keine Informationen passieren, welche die vorgefasste Position oder Einstellung gefährden könnten
  2. Abwehr
    Man blendet diejenigen Informationen, die unsere Meinung gefährden könnten einfach aus
  3. Unterstützung
    Man sucht aktiv nach Informationen, welche die eigene Position stützen und dafür Belege aufführen
  4. Relativierung der Glaubwürdigkeit
    Die Quelle für dissonante Informationen wird entweder herabgestuft, oder in ihrer Kompetenz in Frage gestellt

All dese Mechanismen können in Wirkung gesetzt werden, wenn Menschen oder Gruppen von Menschen bestimmte Interessen verfolgen. Dabei spielen in der heutigen Zeit die Medien eine besondere Rolle, die Renn als dritte Realität bezeichnet, die parallel zur objektiven Realität und deren Repräsentation in unseren Individuellen und kollektiven Deutungsmustern tritt. Diese dritte- auch virtuelle- Realität folgt ihren eigenen Regeln und Gesetzmässigkeiten. Sie ist gekennzeichnet durch die Fokussierung auf das Aussergewöhnliche, auf das Drama und schafft eigene Parallelwelten.

Dies alles führt im Endeffekt dazu, dass durch die Fragestellung und die Art der Informationsvermittlung Eindrücke, Fehlwahrnehmungen und damit Verhaltensreaktionen ausgelöst werden, die offenkundig nicht im Einklang mit der Realität stehen.

All diese Erkenntnisse und Schlussfolgerungen daraus fass Renn im elften Kapitel des Teil II seines Buches noch einmal zusammen. Der schnelle Leser kann sich für die erste Fragestellung mit der Lektüre dieses Kapitels begnügen.

 

ZUM ANDEREN widmet Renn sich den Gefahren, die gesellschaftlich unterbewertet sind, obwohl ihr Bedrohungspotential ungleich höher ist, als wahrgenommen. Hier führt er den Begriff des systemischen Risikos ein. Damit bezeichnet er Risiken, welche die Möglichkeit in sich bergen, dass bei einem Eintreten des Unglücks die lebenswichtigen Systeme, auf denen unsere Gesellschaft beruht, in Mitleidenschaft gezogen werden.

Systemische Risiken sind global, vernetzt und nicht durch lineare Modelle von Ursache und Wirkung beschreibbar. Logischerweise sind deswegen auch keine einzelnen Risiken, wie etwa ‚ Das Öl geht aus‘ beschreibbar, sondern es handelt sich um Risikogruppen. Hier führt eer drei Risikobereiche auf.

  1. Digitaler Flächenbrand in einer hochvernetzten Welt
    wie Zusammenbruch kritische Infrastrukturen, Cyber-Kriminalität
  2. Aushöhlung der ökonomischen und ökologischen Widerstandsfähigkeit
    wie etwa Wasserversorgung, Klimaveränderung, Ernährungskrisen, Finanzkrisen, wachsende Einkommensunterschiede
  3. Gefahren der menschlichen Überheblichkeit in Bezug auf Gesundheit
    wie Pandemien, chronische Erkrankungen, Resistenz gegen Antibiotika

Was zunächst wie ein Sammelsurium sämtlicher Probleme erscheint, gewinnt seine Brisanz dadurch, dass alle diese Probleme in der ein oder anderen Art miteinander verbunden und vernetzt sind.

Deshalb gibt Renn auch keine Handlungsanweisungen, was man tun sollte, um dieses oder jenes Risiko zu minimieren, sondern er beschränkt sich auf drei Kernbotschaften.

  1. Resilienz kommt vor Effizienz
    Höhere Effizienz führt oft zur höheren Verwundbarkeit, vor allem Zentralisierung, Just-in-time- Management und enge Kopplung von Produktionsprozessen. Resilienz erhöht die Widerstandskraft und die Anpassungsfähigkeit eines Systems auch gegen Überraschungen.
  2. Soziale Gerechtigkeit hat Vorrang vor optimaler Ressourcenverteilung
    Eine optimale Allokation (möglichst effizienter Einsatz der Produktionsfaktoren) führt häufig zu hoher Ungleichheit. Auch hier sind Effizienzverluste eher zu tolerieren als grobe Ungerechtigkeiten
  3. Lebensqualität ist wichtiger als Lebensstandard
    Lebensqualität steigt nur marginal bei hohem Einkommens-Niveau, externe Kosten steigen dagegen überproportional an.  Zur Lebensqualität gehören Freiräume, gesunde Lebens- und Umwelt sowie ein ausgeglichenes Sozialleben

Ach hier fasst Renn die Quintessenz seiner Ausführungen in einem abschliessenden Kapitel 10 des Teil IV zusammen.

 

Das Buch bietet über die angeführten Bereiche hinaus einen Fundus an weiteren Gedanken und Informationen, die es wert sind sie weiter zu verfolgen. Ich lese ja viel, aber dieses Buch ragt heraus.

Der Anhang des Buches kann im Internet nachgelesen werden.