Am 7. Oktober startete die Hamas einen Überfall auf israelisches Gebiet, das binnen eines Tages 1.200 Menschen das Leben kostete. Als Reaktion darauf begann der Staat Israel seine Offensive gegen den Gazastreifen. Bislang wurden im Rahmen dieser Aktion mehr als 9.000 Menschen unter dem Bombardement getötet, darunter viele Kinder.
Wir können diesen, ich nenne es mal Krieg, live und in Farbe im Fernsehen, im Internet und in der Presse verfolgen. Andere sind noch dichter dran. In der spanischen Tageszeitung El Diario konnte man jetzt einen Artikel von Uri Weltmann lesen. Uri ist Nationaler Koordinator von Standing Together, einer sozialen Basisbewegung von Juden und Palästinensern in Israel, die sich für Frieden, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Im folgenden die Übersetzung seines Artikels.
Unsere Bewegung für den Frieden in Israel wächst trotz zunehmender staatlicher Repression und Rassismus.
Israel kämpft um sein Wesen als Gesellschaft, und während die Minister die Palästinenser entmenschlichen, bin ich Teil einer Koalition aus Juden und Arabern, die zeigt, dass es eine Alternative gibt.
Seitdem der Krieg in Gaza in den zweiten Monat geht, ist es in Tel Aviv alltäglich geworden, vor den Raketen der Hamas in Deckung zu gehen, die tagtäglich auf die Stadt abgefeuert werden. Ich mache das mit meinen beiden kleinen Töchtern, und es ist immer eine schreckliche Erfahrung für sie. Und für mich auch. Als Vater tue ich mein Bestes, um sie von der Realität des Krieges abzuschirmen und die Normalität aufrechtzuerhalten.
Aber das gelingt mir nicht immer. Diese Woche war ich mit ihnen unterwegs, um Bücher in der öffentlichen Bibliothek abzugeben, und auf dem Platz trafen wir Familien von Israelis, die am 7. Oktober entführt und nach Gaza verschleppt worden waren, um eine Mahnwache abzuhalten und die Regierung zu bitten, über ihre Freilassung zu verhandeln.
Meine kleine siebenjährige Tochter schaute neugierig auf die Bilder der Geiselkinder und fragte mich, wer sie seien. Ich versuche immer, ihnen die Welt auf ehrliche und wahrheitsgemäße Weise zu erklären. Aber die schreckliche Realität von kleinen Kindern, die von ihren Eltern getrennt und in Gefangenschaft sind, wenn sie noch leben, war so entsetzlich, dass ich nach Worten rang.
Später an diesem Tag dachte ich an die palästinensischen Eltern im Gazastreifen, die Töchter im Alter der meinen haben. Sicherlich haben sie nicht die geringste Chance, inmitten der Bombardierung durch meine Regierung den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Sicherlich wird ihr Alltag von Angst beherrscht. Angst um ihr Leben und das Leben ihrer Angehörigen. Angst davor, dass ihnen das Nötigste ausgeht, dass sie ihre Häuser verlassen müssen, dass sie ihr Hab und Gut und die Routine ihres Alltags zurücklassen müssen, dass sie ihre Schulen, ihre Arbeitsplätze und ihre Freunde verlassen müssen.
Was ich geschrieben habe, beschreibt die Realität des palästinensischen und israelischen Lebens. Seit dem 7. Oktober gehe ich von Zeit zu Zeit abends aus dem Haus. Ich sage meinen Töchtern, dass ich „einen Freund besuche“, und ich gehe zu einer Beerdigung oder zu einer Schiwa, der traditionellen jüdischen Trauerzeremonie, bei der ich Freunde tröste, die Familienmitglieder verloren haben, die bei dem Terroranschlag der Hamas in ihren Häusern getötet wurden. Israel ist ein kleines Land, und fast jeder kennt direkt oder indirekt jemanden, der bei dem Angriff verletzt wurde, der gezwungen war, sein Haus zu evakuieren, der ermordet oder entführt wurde.
Für mich wird der Schmerz der israelischen Gesellschaft durch die wahllosen Bombardierungen im Gazastreifen noch verstärkt, bei denen Tausende von Zivilisten, darunter auch Kinder, getötet und mehr als eine Million Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben werden. Es ist schockierend, die kollektive Bestrafung zu sehen, die meine Regierung der Bevölkerung auferlegt, und die Rhetorik zu hören, mit der sie ihre Handlungen entschuldigt, während sie die Wasser- und Stromversorgung im Gazastreifen abstellt. „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend“, waren die schrecklichen Worte von Verteidigungsminister Yoav Gallant, um die Verschärfung der Belagerung und die Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung zu rechtfertigen.
Seit dem 7. Oktober wurde auch eine Welle der Repression gegen die in Israel lebende arabisch-palästinensische Minderheit ausgelöst. Die Organisation Standing Together, für die ich arbeite, ist eine politische Bewegung, die sich aus jüdischen und palästinensischen Bürgern Israels zusammensetzt und die Tausende von arabischen Arbeitnehmern, die entlassen wurden, sowie zahlreiche arabische Studenten, gegen die an den Universitäten Disziplinarmaßnahmen verhängt wurden, per Telefon unterstützt. Einige wurden beschuldigt, den „Hamas-Terrorismus“ zu unterstützen, nur weil sie Instagram-Posts über das menschliche Leid in Gaza „geliked“ haben.
Während der Krieg in Gaza tobt, kämpft Israel auch um sein Wesen als Gesellschaft. Aus diesem Grund haben wir das jüdisch-arabische Solidaritätsnetzwerk mit mehr als 12 Gruppen aus Städten im ganzen Land gegründet. Ziel der Initiative ist es, vor Ort Rassismus zu bekämpfen, für Frieden und Gleichberechtigung einzutreten und jüdische und palästinensische Bürger zu vereinen.
Unsere Aktivisten entfernen Graffiti und ersetzen Phrasen wie „Tod den Arabern“ durch „Gleichheit für alle“; sie stellen zweisprachige Schilder mit der Aufschrift „Nur Frieden bringt Sicherheit“ auf; und sie unterstützen arabische und jüdische Familien, in denen jemand im Krieg getötet oder verletzt worden ist.
Manchmal sind wir staatlichen Repressionen ausgesetzt und die Polizei verhaftet einige unserer Aktivisten, aber dennoch wächst unsere Bewegung. Letzte Woche haben wir eine Reihe von jüdisch-arabischen Solidaritätskundgebungen durchgeführt: 700 Menschen nahmen an der Kundgebung in Haifa teil, 300 an der Kundgebung in Tel Aviv, 350 an der Kundgebung in Baqa al-Gharbiyye und 150 an der Kundgebung in Abu Ghosh.
Während kriegstreiberische Regierungsminister die Palästinenser entmenschlichen, zu rassistischer Gewalt aufrufen und einen monatelangen Krieg planen, lautet unsere Botschaft, dass es eine Alternative gibt. Wir fordern einen Frieden zwischen Israel und Palästina, der das Recht beider Völker auf Unabhängigkeit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit respektiert. Das bedeutet ein Ende der Besatzung und die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates in Übereinstimmung mit den UN-Resolutionen sowie die volle Gleichberechtigung der arabisch-palästinensischen Bürger in Israel, sowohl als Einzelpersonen als auch als nationale Minderheit. Nur auf diese Weise können wir die Sicherheit und das Wohlergehen von Israelis und Palästinensern gleichermaßen gewährleisten.
Für Deutschland ist die Sicherheit Israels Staatsraison. So äußerste sich die deutsche Außenministerin in der Fragestunde des Bundestags.
Die Äußerungen von Annalena Baerbock stammen vom 11. Oktober. Man kann ihr zugute halten, dass sie an diesem Tag noch nicht wusste, wie sich die Situation in Israel und Palästina entwickeln würde.
Medico International schätzt die Situation in einer Erklärung inzwischen so ein:
Fast alle Argumente, die vor zwei, drei, vier Wochen vielleicht noch überzeugend waren oder klangen, sind es heute nicht mehr. Israels Armee ist außer Kontrolle, außerhalb der Verhältnismäßigkeit und außerhalb völkerrechtlicher und wertegeleiteter Bahnen. Die Menschen in Gaza durchleben seit Wochen die blanke Hölle und kein Tunnel unter ihnen rechtfertigt die Fortsetzung dieses Albtraums. Seit dem 7. Oktober finden flächendeckende Angriffe auf alle Teile Gazas statt, die etwa die Hälfte aller Wohnhäuser beschädigt, zerstört oder bis auf weiteres unbewohnbar gemacht haben. 1,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht, so viele wie noch nie in Palästina. Sichere Zufluchtsorte gibt es nicht, bombardiert wird überall. Ganze Familien werden durch Luftangriffe ausgelöscht.
Ja, Deutschland hat aus seiner Geschichte heraus, eine besondere Verpflichtung gegenüber Jüdinnen und Juden (und meinetwegen auch gegenüber dem Staat Israel). Aber die deutsche Regierung sollte gerade deswegen nicht das Israel von Netanjahu, sondern das Israel von Uri Weltmann unterstützen.