Im Herbst 2022 waren wir, Hans und Ulli, gemeinsam mit etwa weiteren 20 Personen unterschiedlichen Alters und Herkunft, mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung ein paar Tage in Vilanova i Geltrú und Barcelona, um dort Aktivist* innen von sozialen Bewegungen und deren Aktivitäten kennen zu lernen. Untergebracht waren wir im Hotel Gatell, das in Vilanova zentral gelegen ist.
Das folgende ist ein subjektiver Bericht, der unsere Erlebnisse, Eindrücke und Einschätzungen wiedergibt. Die Fülle des Erlebten kann auch dazu führen, dass wir nicht alles und nicht alles richtig in Erinnerung haben.
Im Text gibt es Zitate, die kursiv gekennzeichnet sind. Dabei handelt es sich nicht immer um wörtliche Aussagen, wir haben sie manchmal ein wenig eingedeutscht. Die weiterführenden Links verweisen oft auf fremdsprachige Seiten. Das war immer dann notwendig, wenn wir keine deutschen Entsprechungen gefunden haben. Vielleicht kann frau sich ja mit einem Übersetzungstool für Webseiten weiterhelfen.
Nach dieser Vorrede zu unseren Eindrücken. Es waren fünf sehr interessante und informative Tage.
Tag 1 Vilanova, Stadtteil- und linke Kommunalpolitik
Am Morgen starten wir mit einer kurzen internen Vorstellungsrunde und Einführung, dann machen wir uns zu einem kleinen Stadtrundgang auf. Wir haben ein dichtes Programm.
Das Ateneu
Unser erster Anlaufpunkt ist das Ateneu. Die Ateneus sind kulturelle Einrichtungen, die Ende des 19. Jahrhunderts oft auch in Verbindung mit der Arbeiterbewegung und mit republikanischen Strömungen in Katalonien, aber auch in anderen Teilen Spaniens entstanden. Das in Vilanova beschreibt sich selbst wie folgt:
Das Ateneu vilanoví ist eine kulturelle Einrichtung, die zu einem kommunalen Bezugspunkt für die Volkskultur, den kritischen Geist und das nationale Bewusstsein der Katalanen werden will. Wir sind der Meinung, dass Vilanova i la Geltrú einen kulturellen Bezugspunkt verdient und braucht, der sich innerhalb der Pluralität und Vielfalt für Werte wie Solidarität, kollektive Arbeit, Ökologie, historisches Gedächtnis und Kultur aus dem Volk einsetzt. Wir sind ermutigt und entschlossen zu diesem neuen Engagement, das wir mit dem Wunsch antreten, es der ganzen Stadt zu öffnen und alle zur Teilnahme einzuladen. Wir widmen uns der Förderung von Werten wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Respekt in der Gesellschaft von Vilanova sowie der Kultur und Sprache der Països Catalans. Kurz gesagt, wir kämpfen für die soziale und nationale Emanzipation der katalanischen Länder.
Organisiert wird das ganze von Freiwilligen, die sich zu regelmäßigen Versammlungen treffen, Veranstaltungen organisieren und die Räume auch anderen Gruppen zur Verfügung stellen. Das sind politische Organisationen, eine Umweltschutzgruppe, eine Konsumgenossenschaft oder auch ein Kulturverein. Zukünftig wird es eine Kneipe geben, in die man einfach gehen, Leute treffen und sein Bier trinken kann. Das Ateneu finanziert sich zum Teil selbst, zum Teil wird es von der Stadtverwaltung unterstützt.
Kommunalpolitik in Vilanova
Anschliessend begeben wir uns zur Stadtverwaltung, genauer gesagt zum Rathaus. Dort treffen wir einige linke Abgeordnete der CUP und von den Comunes. Beide Organisationen haben je zwei Abgeordnete. Sie sind in der Opposition, seit im Frühjahr die Koalition von ERC, Junts und CUP auseinandergeflogen ist. Dementsprechend wenig Gestaltungsmacht besitzen sie auch. Immerhin, so berichten sie, haben sie es geschafft, dass das Gesundheitszentrum (CAP) wieder längere Öffnungszeiten hat. Die beiden Gruppierungen scheinen gut miteinander zusammen zu arbeiten, die gegensätzliche Haltung zur Unabhängigkeit auf kommunaler Ebene kein großes Hindernis zu sein. Innerhalb der Gruppierungen gibt es aber immer wieder Streitigkeiten, Spaltungen und Rücktritte. Die CUP von Vilanova hat gerade einen Wechsel der Ratsmitglieder vorgenommen, bei den Comunes von Vilanova hat sich wohl die Abspaltung der Anticapitalistas von Podemos auf nationaler Ebene ebenfalls in einer Spaltung ausgewirkt.
Candidatura d‘Unitat Popular
Die CUP entstand aus dem Zusammenschluss einiger linker Kandidaturen auf kommunaler Ebene. 2012 kandidierte sie zum erstenmal erfolgreich für das katalanische Parlament. Sie beschreibt sich selbst wie folgt:
Die CUP setzt sich aus autonomen lokalen Versammlungen zusammen, die Städte oder Stadtteile vertreten. Diese Versammlungen sind in ihren Gebieten stark engagiert und arbeiten hart für die Umsetzung einer klaren linken Politik, in den Institutionen, in denen sie vertreten sind, aber vor allem an der Basis. Sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene werden die Entscheidungen in den Versammlungen nach den Grundsätzen der direkten Demokratie getroffen. Der stark dezentralisierte Charakter dieser Organisation ergibt sich aus dem Glauben an den Municipalismo. Für die CUP sind die Kommunalverwaltungen die einzigen Institutionen, die von der Bevölkerung erreicht werden können. Die Bedeutung, die den Gemeindeversammlungen beigemessen wird, soll auch dazu dienen, die hierarchische Organisation der meisten traditionellen politischen Parteien zu vermeiden.
Catalunya en Comú
Die Comunes, wie sie abgekürzt genannt werden, sind ebenfalls ein Zusammenschluss verschiedener Gruppen aus dem linken Spektrum. Den Kern bildet Barcelona en Comú, denen sich Equo, EUiA, ICV y Podem angeschlossen haben. Damit das ganze nicht zu einfach ist, bilden die Gruppierungen auf lokaler Ebene noch einmal Zusammenschlüsse oder Wahlplattformen, hier in Vilanova die SomVNG.
Catalunya en Comú ist der politische Raum aller Menschen, die ein Land zum Leben wollen, ein Land, in dem die Menschen im Mittelpunkt stehen. Einen Raum, der ein transformatives, grünes und feministisches Projekt fördert. Ein Projekt, das auf fortschrittlichen und republikanischen Vorschlägen und Werten basiert, mit dem Ziel, eine Erneuerung des Gesellschaftsmodells, der Wirtschaft und der Institutionen zu erreichen. Catalunya en Comú ist der Raum für all jene Menschen, die ein Land wollen, das die Rechte aller garantiert und das eine weltweite Referenz in grüner und transformativer Politik ist. Die Zeit ist jetzt gekommen, weder die Welt noch unser Land können länger warten, die Zeit ist gekommen, um die großen Veränderungen zu erreichen, die wir brauchen.
Gemeinsam bilden diese beiden politischen Organisationen den linken Flügel der katalanischen Parteienlandschaft. Beide sind republikanisch orientiert, das heisst, sie lehnen die spanische Monarchie ab. Die sozialdemokratische Achse bilden die beiden Parteien ERC (ebenfalls republikanisch) und die PSC. Rechts davon bewegen sich die Junts per Catalunya und ganz rechts die PP, die Ciutadans und Vox.
Treffen mit Aktivistinnen der Sindicat de Llogateres
Das Problem der Wohnungen und der Mieten hat noch einmal eine andere Dimension als in Deutschland. Der Anteil am Einkommen, den man für Wohnen ausgeben muss, ist in Spanien einer der höchsten in Europa. Es gibt praktisch keinen Bestand an sozialem Wohnungsbau, die Mietgesetze sind viel stärker vermieterfreundlich als bei uns. Bisher war es zum Beispiel so, dass die Mietverträge in der Regel nach drei Jahren automatisch ausliefen und man neu verhandeln musste. Ein Recht auf weiter wohnen gab es nicht.
Nach dem Treffen im Rathaus macht einer der Gesprächsteilnehmer*innen extra seine Kneipe für uns auf. Dort treffen wir uns mit drei Aktivistinnen, die in Vilanova und Umgebung im Sindicat de Llogateres aktiv sind. Das ist eine Mietergewerkschaft, die sich für bezahlbaren Wohnraum einsetzt. Dabei legen Sie den Fokus auf Aktionen und weniger auf Beratung. Das unterscheidet sie wohl von den Mietervereinen, die bei uns in der Bundesrepublik existieren. Zum ersten Mal taucht eine Aussage auf, die uns die nächsten Tage immer wieder begleiten wird: Wir wollen keinen Service bieten, sondern wir möchten uns gegenseitig im Kampf unterstützen. Neben vielem, von dem wir denken, ja das gibt es in Deutschland auch oder ähnlich, scheint uns das einer der großen Unterschiede zu sein. Ein anderer Politikansatz, der stärker auf die Initiative von unten und auf die Selbstorganisation der Betroffenen setzt.
Dagegen wehren sich die Menschen gemeinsam und auch mit drastischen Mitteln wie Hausbesetzungen. Die katalanische Regionalregierung hatte 2020 bereits ein Gesetz verabschiedet, das zumindest die gröbsten Auswüchse eindämmen sollte. Dieses wurde jedoch auf Klage der Konservativen vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt. Die spanische Zentralregierung hat nun ein neues in Arbeit, das aber innerhalb der Koalition umstritten ist. Und selbst wenn es verabschiedet werdn sollte, ist nicht klar, ob es vor den Gerichten Bestand haben wird.
Hier stoßen wir auf ein weiteres Problem, das auch noch andere Gesprächspartner*innen in den nächsten Tagen anschneiden werden. Die spanische Justiz ist in den oberen Rängen nach wie vor in den Händen von Franquisten, die ihre Ämter nutzen, um alle fortschrittlichen Gesetze juristisch abzuwehren und politische Gegner*innen mit Strafverfahren zu überziehen. Das erschwert den Kampf natürlich enorm, weil erreichte Erfolge mit einem Federstrich wieder zurückgenommen werden können und führt zu einem enormen Misstrauen gegenüber allen staatlichen Institutionen.
Tag 2 Unabhängigkeit, Repression, soziale Kämpfe
Den zweiten Tag machen wir uns mit dem Regionalzug nach Barcelona auf. Im Augenblick sind die Regionalzüge in ganz Spanien kostenlos. Das ist eine Initiative der progressiven spanischen Zentralregierung, um die Folgen der Inflation abzumildern.
Òmnium Cultural
Der Besuch bei Òmnium Cultural steht an. Eine NGO mit großem Einfluss und eine echte Macht in Katalonien.
Auf ihrer Webseite beschreiben sie sich so:
Òmnium Cultural ist eine Non-Profit-Organisation mit mehr als 165.000 Mitgliedern und einer 58-jährigen Geschichte. Òmnium Cultural wurde am 11. Juli 1961 auf dem Höhepunkt der 40-jährigen Franco-Diktatur gegründet, um die Zensur und Verfolgung der katalanischen Kultur zu bekämpfen und die Lücke zu schließen, die die von der Diktatur verbotenen politischen und zivilen Institutionen Kataloniens hinterlassen hatten. Òmnium Cultural wurde zwischen 1963 und 1967 vom Franco-Regime verboten, arbeitete aber von Paris aus heimlich weiter an der Verteidigung und Förderung der Sprache und Kultur des Landes.
Im Laufe der Jahre hat sich Òmnium Cultural zu einer der wichtigsten Organisationen der katalanischen Zivilgesellschaft entwickelt. Heute ist Òmnium Cultural eine der führenden NGOs in Spanien und eine der wichtigsten kulturellen Organisationen in Europa. In Katalonien ist Òmnium zweifellos eine Säule der Kultur- und Sprachförderung und ein wichtiger Akteur bei der Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte, der sich zunehmend auf europäischer und internationaler Ebene engagiert.
Seit 2010 ist Òmnium Cultural die Organisation, die zusammen mit der Assemblea Nacional Catalana (ANC) die massivsten friedlichen Mobilisierungen in Europa zugunsten des Rechts der Katalanen auf eine demokratische und freie Entscheidung über ihre politische Zukunft durch ein Selbstbestimmungsreferendum gefördert hat.
Òmnium Cultural finanziert sich zu 100 % aus privaten Beiträgen. Das Budget der Organisation für 2018 beläuft sich auf etwas mehr als sieben Millionen Euro. Sie verfügt über 44 Regionalbüros und beschäftigt 90 Mitarbeiter.
Zwei Mitarbeiter*innen geben uns einen Überblick über die kulturellen Aktivitäten von Òmnium und berichten auch von der Repression, die die katalanische Bevölkerung am 1. Oktober 2017 anlässlich des Referendums durch den spanischen Zentralstaat erleiden mussten. Sinnbildlich dafür steht der Prozess und die anschliessende Verurteilung von 18 Politiker- und Bürgerrechtsaktivist*innen zu absurden Gefängnisstrafen. Unter ihnen auch Jordi Cuixart, der damals Vorsitzender von Òmnium Cultural war und angeklagt wurde, weil er von einem Autodach aus die Demonstrant*innen zu Mäßigung aufrief.
Der Vortrag von Òmnium ist ziemlich professionell und auch überzeugend. Man kann nachvollziehen, was die Beweggründe für die Unabhängigkeitsbewegung sind und auch die Verbitterung, die diese Auseinandersetzung hervorgerufen hat. Aus ihrer Sicht kämpft die katalanische Unabhängigkeitsbewegung gegen einen monolithischen Block aus Justiz, Polizei, Politik und Medien auf der spanischen Seite, der Ihnen grundlegende demokratischen Rechte verwehrt.
Intersindical-CSC
Nächste Station ist eine -gemessen an CCOO und UGT– kleine Gewerkschaft, die sich als klassenorientiert versteht und die Kompromisse, die die großen Gewerkschaften ihrer Meinung nach eingehen, ablehnt. Die Intersindical-CSC ist in den letzten Jahren, auch bedingt durch die Unabhängigkeitsbewegung stark gewachsen und nimmt inzwischen den vierten Platz bei den katalanischen Gewerkschaften ein.
Ihr Vorsitzender gibt uns einen Überblick über die Lage der Beschäftigten in Katalonien und deren Organisationsgrad. Beides ist nicht gerade berauschend. Die Gewerkschaften in Spanien haben keine Streikkasse, jeder Streiktag führt zu Lohnausfall. Angesichts dieser Situation ist es erstaunlich, wie hart Streiks hierzulande geführt werden.
Für uns, die wir aus der Tradition der Einheitsgewerkschaft kommen, ist die spanische Gewerkschaftspolitik schwer zu durchschauen.
Sindicat de Llogateres
Zum Abschluss des Tages noch einmal ein Treffen mit der Mieterbewegung, diesmal in Barcelona. Zwei Aktivistinnen erzählen uns, wie sie ihre Arbeit verstehen und organisieren. Auch hier der Gedanke, dass man keine Service-Organisation sein will, man will sich auch nicht auf konkrete Verbesserungen beschränken, sondern den Blick der Betroffenen auf die Gesamtsituation lenken. Dementsprechend laufen auch die Treffen in der Mieterbewegung ab. Sie sind prinzipiell offen und jede und jeder kann ihre Situation schildern und andere aus dem Kreis geben ihre Einschätzung ab, erzählen von ihren Erfahrungen und so formt sich für die jeweils Betroffenen eine Einschätzung, wie man der eigenen Lage begegnen kann.
Auf die Frage, wie sie die Politik der Stadtregierung von Barcelona sehen, der mit Ada Colau eine ehemalige Aktivistin aus der Bewegung vorsteht, antworten Sie positiv.
Tag 3 Munizipalismus
Der dritte Tag gehört wieder der Lokalpolitik mit Besuchen in Sitges und Ribas.
Sitges
In Sitges ist die CUP Teil einer 5-Parteien Koalition und damit für die Bereiche Stadtentwicklung und Soziales zuständig. Sitges ist ein Tourismus-Hotspot, unter anderem auch bekannt durch ein Filmfestival. Wie in vielen Gemeinden ist der Tourismus einerseits eine der Grundlagen für die lokale Wirtschaft, bringt aber andererseits für die Bevölkerung eine Reihe von Problemen mit sich. Eines davon ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt, der durch die (zum Teil auch illegalen) Umwidmung von Baubestand in Ferienwohnungen durch Konzerne wie Airbnb und Booking.com stark unter Druck ist. In Sitges ist es nun gelungen, auf einem Gelände, das schon länger der Stadt gehört, ein Projekt anzuschieben, bei dem circa 175 Sozialwohnungen errichtet werden. Die Mieten sollen circa 50 % unter dem Ortsüblichen liegen und 10 % der Wohnungen sind für Familien mit sehr wenig Einkommen vorgesehen. Das Interessante daran ist, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt sowohl der Bau als auch die Vermietung der Wohnungen von Stiftungen nach dem Prinzip einer gemeinwohlorientierten Ökonomie verwaltet werden. Damit soll sozialer Wohnungsbau nachhaltig gefördert werden. Es soll verhindert werden, dass ursprünglich als sozialer Wohnungsbau geförderter Wohnraum wieder aus der Mietpreisbindung fällt. Ein Modell, das Schule machen könnte.
Noch ein kurzer Zwischenstopp vor dem Ateneu von Sitges, das um diese Uhrzeit leider geschlossen ist. Wir verabschieden uns von den zwei Genoss*innen der CUP und fahren mit dem Bus weiter nach Sant Pere de Ribes.
Sant Pere de Ribes
In Sant Pere de Ribes treffen wir uns mit Aktivist*innen der UM9-CUP, die hier mit 4 Sitzen im Lokalparlament vertreten ist. Sie beschreiben sich selbst als eine
… kommunale politische Organisation, einheitlich und basisorientiert. Unsere Ziele sind soziale Gerechtigkeit und nationale Befreiung. Wir wollen dies aus der Gemeinde heraus tun, mit dem Willen, eine treibende Kraft der sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen von Sant Pere de Ribes zu werden, durch offene Beteiligung, konstruktive Kritik und Solidarität. Unsere Gemeindegruppe im Rathaus ist eines der Instrumente der politischen Intervention, die wir nutzen, um unsere Ziele zu verwirklichen.
Auch hier wird in den Beiträgen klar, wie die katalanische Linke (zumindest die Teile, die wir kennen lernen durften) Politik organisiert. Eine möglichst breite Massenbasis, eine tiefe Verankerung in der Bevölkerung, gründend auf kulturellen Aktivitäten und konkreten sozialen Auseinandersetzungen und darauf aufbauend erst die politische Vertretung in den Gremien.
Danach ins GER, ein Kulturzentrum, das dieses Jahr 50-jähriges Bestehen feiert und mit der Vielfalt der Aktivitäten und seiner Größe wirklich beeindruckend ist. Es ist genossenschaftlich organisiert und wird von etwa 1000 Personen getragen. Man findet dort eigentlich alles, eine Kneipe, Versammlungs- und Veranstaltungsräume, bis hin zu einem Theater. Neben Kultur und Sport bietet das GER auch eine Plattform für politische Veranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen.
Tag 4 Genossenschaften, Netzwerke, Stadtteilkämpfe
Den nächsten Tag verbringen wir wieder in Barcelona, genauer gesagt in Sants, einem Stadtteil im Zentrum von Barcelona, der aber so anders ist als das Barcelona, das man sonst als Tourist* in besichtigt. Sants lag bis Ende des 19. Jahrhunderts, als es eingemeindet wurde, vor den Toren der Stadt und war eines der Zentren der textilverarbeitenden Industrie in Katalonien. Fabriken mit daneben liegenden Wohnungen für Arbeiter*innen prägten das Bild von Sants. Heute ist es ein lebendiger Stadtteil, der immer noch eine eigene Identität hat.
Sants und die Genossenschaftsbewegung
Wir treffen uns in Sants mit Marc, der uns eine hervorragende Einführung in die Geschichte und Bedeutung der Genossenschaftsbewegung speziell auch in Sants gibt. Ulli nimmt vieles per Video auf, hier ein paar Zitate von Marc mit unseren Übersetzungen und Zusammenfassungen.
En los anos noventa – bueno – era una época de experimentaciones sociales y culturales..sobre todo de la gente mas joven. No solo necesitamos alternativas culturales y políticas, sino también alternativas económicas, para recrear sistemáticamente alternativas económicas al sistema del capitalismo..(Marc).
In den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich in Barcelona ein Klima des sozialen und kulturellen Experimentierens. Vor allem in der jungen Generation entstand eine die Bevölkerung mobilisierende Aufbruchsstimmung für eine neue Genossenschaftsbewegung. Deren Selbstverständnis leitet sich bis heute auch historisch her. Die bedeutenden Arbeiter*innenkämpfe im 19. Jh. – hier im Stadtteil Sants vor allem in der Textilindustrie – und die revolutionären Umbrüche und Modelle der Republik ab 1936 – stellen einen wesentlichen Bezugsrahmen zu den heutigen Projekten in Sants dar.
Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass es hier nicht nur um politische und kulturelle Alternativen geht. Diese sind natürlich keineswegs zu vernachlässigen. Aber das Besondere der neuen Stadtteilbewegungen ist, dass sie auch systematisch an funktionierenden ökonomischen Modellen – als Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise – arbeiten.
No es solo para satisfechar las necesidades personales de las socias, sino también para solucionar necesidades colectivas del territorio. Somos una cooperativa en Sants, un proyecto territorialisado para cambiar y transformar este barrio en una manera solidaria, como una alternativa al capitalismo. En este sentido empezamos un proyecto en 2010, que se llama „barrio cooperativo”. Tenemos que preguntar primero: Cuales son las necesidades de la población – cuantos kilos de pan, de patatas, de nectarinas…necesita este barrio. Para organizar después la producción de harina…Es muy importante entender este. Que no sea que la cooperativa es solo una solución para un pequeño grupo de personas, sino para toda la gente de un territorio. (Marc)
Es geht nicht nur darum, die persönlichen Bedürfnisse der Mitglieder zu befriedigen, sondern auch die kollektiven Bedürfnisse des Gebiets zu erfüllen. Wir sind eine Genossenschaft in Sants, ein territoriales Projekt zur Veränderung und Umgestaltung dieses Viertels auf solidarische Weise, als Alternative zum Kapitalismus. In diesem Sinne starteten wir 2010 ein Projekt mit dem Titel „Kooperative Nachbarschaft“. Zunächst müssen wir uns fragen: Was sind die Bedürfnisse der Bevölkerung – wie viele Kilo Brot, Kartoffeln, Nektarinen… braucht dieses Viertel? Um dann die Produktion von Mehl zu organisieren… Es ist sehr wichtig, dies zu verstehen. Die Genossenschaft ist nicht nur eine Lösung für eine kleine Gruppe von Menschen, sondern für alle Menschen in einem Gebiet.
Diese Form von Genossenschaftsbewegung als Gemeinwohlökonomie geht von gemeinsamen vorrangigen Bedürfnissen im Stadtteil aus, und baut auf solidarisch ausgehandelte Lösungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse der Nachbarschaft. Im Mittelpunkt stehen also nicht (nur) die individuellen Bedürfnisse einzelner Genossenschaftler*innen, sondern die der gesamten Bevölkerung im Stadtteil.
Finanziell gefördert wurde dies ab 2010 von der Conföderation der (landwirtschaftlichen und industriellen) Arbeitsgenossenschaften.
Diese neue Genossenschaftsbewegung ging in diesem Sinne folgendermaßen vor:
- Sie wollte zunächst das, was es an alternativer Ökonomie damals schon gab, sichtbar machen.
- Gleichermaßen sollten natürlich auch Neugründungen angeschoben werden.
- Von Anfang an lag der Fokus aber auch darauf, all das in Verbindung miteinander zu bringen, ein gut vernetztes und gemeinsam organisiertes System von ökonomischen Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise in die Diskussion zu bringen. Es sollte gewissermaßen – ausgehend von den vorrangigen Bedürfnissen des Stadtteils – so etwas wie ein sozialer Markt aufgebaut werden. In den jeweiligen Produktions- oder Verkaufsstätten wurde z.B. gezielt bei beteiligten Genossenschaften im Stadtteil eingekauft. So konnten (und können) sich die Arbeitsgenossenschaften gegenseitig unterstützen, dadurch auch einen eigenen Güterkreislauf herstellen, in dem alle Beteiligten von der Wertschöpfung profitieren.
Die Gründung von Arbeitsgenossenschaften war auch deshalb wichtig, um die schon existierenden Modelle von Wohnungs– und Finanzgenossenschaften sinnvoll im Sinne einer funktionierenden, von den Bedürfnissen der Bevölkerung im Stadtteil ausgehenden Kreislaufwirtschaft zu ergänzen. Historisch gibt es in Katalonien eine bedeutende Tradition dieser Arbeitsgenossenschaften, die vom Politikansatz her weit über das genossenschaftliche Prinzip, das in Deutschland vorherrscht, hinaus gehen.
Die Wohnungs- und Finanzgenossenschaften waren und sind nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien das am weitesten verbreitete Phänomen. Sie funktionieren nach dem genossenschaftlichen Prinzip, nach dem Individuen Eigentumsanteile erwerben, und so ihre individuelle Lage verbessern können.
Demgegenüber geht es im vorliegenden revolutionären Konzept in Barcelona Sants darum, erstmal die Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung im Stadtteil beteiligungsorientiert zu ermitteln. Also zum Beispiel, wie oben beschrieben, ausgehend vom konkreten Bedarf der Bevölkerung eine eigene Bäckerei-Kooperative aufzubauen, und das Brot dann gezielt in der Qualität und Menge zu backen, in der es das Stadtteil braucht. Und die „Rohstoffe“ dafür von Kooperativen zu beziehen, die dadurch als Zulieferer und Konsument*innen Teil des ökonomischen Kreislaufs werden.
Als historisches Vorbild dafür fungiert die katalanische Revolution ab Beginn des Bürgerkriegs, der nach dem Putsch Francos 1936 begann. Nach dem Überfall Francos auf die junge Republik schlossen sich in Barcelona alle Arbeitsgenossenschaften zusammen, und gingen genau nach dem eben beschriebenen Prinzip vor. Man gründete einen großen Genossenschaftsverband, um alle Ressourcen und die Produktion entsprechend der vorrangigen Bedürfnisse koordinieren zu können. Und es funktionierte gut. Es gab also ab 1936 nicht nur eine Einheitsgewerkschaft, sondern auch eine Einheitsgenossenschaft, die die Produktion und Distribution bedürfnisorientiert organisierte.
Kritik am „klassischen“ Genossenschaftsprinzip:
Von gewerkschaftlicher Seite aus wurde und wird das Genossenschaftswesen immer wieder auch als individualistische Aktion kritisiert, als „Schlafmittel“ für die Arbeiterbewegung. Die Arbeitenden würden hier nicht gemeinsam Lohnkämpfe ausfechten, sondern sich vielmehr nur in kleinen Gruppen zusammenschließen. So könnten sie u.a. durch gemeinsamen Einkauf etc. günstiger produzieren, und dadurch gewissermaßen Sonderlösungen für eine kleine Gruppe von Genossenschaftler*innen schaffen, ohne an der Situation insgesamt etwas zu verändern.
„La critica sindicalista era que no produzcan soluciones para toda la población, sino solo para un grupito..” (Marc)
España Industrial
Das alles erfahren wir von unserem Guide, als wir uns mit ihm im Parque de la España Industrial treffen. Dieser Name geht zurück auf die ehemalige Fabrik, die früher an dieser Stelle stand.
Anhand der Geschichte dieser Fabrik erfahren wir auch, dass der Reichtum dieser Stadt auf der Ausbeutung der spanischen Kolonien und auch auf Sklavenhandel beruhte und von den Kämpfen der Arbeiter*innen gegen die Arbeitsbedingungen und ihre ersten gewerkschaftlichen Organisationsanstrengungen. Dieser Widerstand setzt sich bis heute fort im Kampf der Bevölkerung von Sants, als nach der Schließung der Fabrik im Jahr 1981 das Gelände an Investoren veräußert werden sollte und die Menschen von Sants durchsetzten, dass daraus stattdessen ein öffentlicher Park würde.
Wir laufen weiter durch den Stadtteil und machen an zahlreichen Gebäuden halt, anhand derer unser Guide uns die vielfaltältigen Formen der Selbstorganisation im Stadtteil erläutert. Schließlich landen wir im Can Battlò.
Can Battlò
Das Can Battlò (nicht zu verwechseln mit dem Casa Battlò, mit dem es die ehemalige Eigentümerfamilie teilt) ist eine weitere ehemalige Industriebrache im Herzen von Sants, die 2011 von den Basisbewegungen besetzt und in einen alternativen Raum verwandelt wurde. So beschreibt es sich selbst:
Das selbstverwaltete Gemeinschafts- und Nachbarschaftszentrum von Can Batlló ist eine soziale und kulturelle Einrichtung, die sich in verschiedenen Gebäuden in der alten Textilfabrik von Can Batlló im Quartier Bordeta befindet. Insgesamt sind es vom Stadtrat überlassene Gebäude mit einer Gesamtfläche von 13.000 m2.
Dank des kämpferischen Engagements vieler Menschen und des Zusammenhalts im Quartier hat es seine eigene Erfahrung in der Verwaltung eines als „städtisches Gemeingut“ verstandenen Raums aufgebaut, der Hunderte von Gemeinschaftsinitiativen beherbergt und praktisch dazu beigetragen hat, zu erleben, wie Stadtplanung von unten möglich, transformativ und populär zu machen ist.
Das Projekt ist immer noch im wachsen und wir können uns nur einen kleinen Eindruck von den zahlreichen Aktivitäten verschaffen, zu denen neben selbstverwalteten Betrieben, Kultur- und Bildungseinrichtungen auch ein Bauprojekt genossenschaftlicher Sozialwohnungen zählt .
Stand und Zustand der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien
Den Abschluss des Tages bildet ein Treffen mit dem Schriftsteller David Fernàndez , der zwischen 2012 und 2015 für die CUP im katalanischen Parlament saß. Er gibt uns einen Überblick über die inzwischen zehnjährige Periode der Auseinandersetzung mit dem spanischen Zentralstaat, die im Moment in eine Sackgasse geraten zu sein scheint. In diesen zehn Jahren hat sich nach Ansicht eines Teils der Unabhängigkeitsbefürworter*innen, zu denen auch Fernandez zählt, im spanischen Staat nicht viel bewegt. Es macht für sie keinen großen Unterschied, wer in Madrid regiert, sie sind aber auch enttäuscht, weil die Linke in Katalonien in der Frage der Unabhängigkeit keine gemeinsame Linie vertritt und ihrer Ansicht nach nicht konsequent genug handelt. Auf die Frage, was das alles gebracht hätte, gibt David Fernàndez eine lakonische Antwort: Wenigstens haben wir es geschafft, dass die Convergencìa i Uniò (CiU) zerbrochen ist. Tatsächlich ist während des Prozesses die CiU, die liberal-konservative Partei der katalanischen Bourgeoisie, die seit Beginn der Demokratie 1978 mit nur ganz kurzen Unterbrechungen praktisch durchregiert hat, in mehreren Schritten zerfallen, umbenannt, und schliesslich in die Bedeutungslosigkeit versunken. Der verbliebene, politisch noch relevante Teil -die Junts- um den ehemaligen katalanischen Präsidenten Puigdemont, der seit 2017 im Exil ist und nach wie vor von einer hohen Gefängnisstrafe bedroht ist, setzt auf einen harten Kurs gegenüber Madrid. Während wir diese Zeilen verfassen, entscheidet sich die Mehrheit der Junts-Mitglieder, die Regierungskoalition in Katalonien zu verlassen.
Tag 5 Feministische Bewegung
Am Morgen trifft sich die ganze Gruppe für ein Feedback über die Reise und die gemachten Erfahrungen. Die Beurteilungen sind durchweg positiv. Man hat vieles dazu gelernt und neu verstanden, aber natürlich bleiben auch eine Menge Fragen offen. Genug Stoff, um sich mit dem Thema weiter zu beschäftigen.
Danach geht es noch ein letztes Mal nach Barcelona, um dort Vertreterinnen der feministischen Bewegung Ca la Dona zu treffen. Ihr Selbstverständnis:
Ca la dona ist ein lebendiger Begegnungs- und Beziehungsraum, offen für Partizipation und Vorschläge des gesamten feministischen Spektrums. Es ist ein Raum, in dem politische Erfahrungen, Reflexion und Produktion kritischen Denkens mit dem Wunsch zusammenkommen, Austausch, Diskussionen und Aktivismus aus feministischer Perspektive in Bezug auf den politischen und sozialen Kontext, in dem wir leben, zu teilen.
Die Aktivistinnen geben uns einen Überblick über die neuere Geschichte der Frauenbewegung in Spanien. Die ist durchaus beeindruckend.
Für den 8. März 2018 rief die Frauenbewegung zu einem Streik an vier Fronten auf: Arbeit, Studium, Pflege und Konsum. Die Frauen sollten streiken, um zu demonstrieren, dass „ohne uns die Welt zum Stillstand kommt“. Diese Aktion war ein voller Erfolg, in über 60 Städten fanden Demonstrationen statt, 6 Millionen Menschen beteiligten sich an dem Streik, der weltweite Beachtung fand.
Dese Aktionen setzen sich auch 2019 und in den Jahren danach fort. Durch die Pandemie ist die Bereitschaft zu Aktionen jedoch, so berichten die Aktivistinnen, stark zurückgegangen.
Eine Woche Katalonien, was bleibt
Es waren fünf intensive, mit Informationen und menschlich sehr bewegenden Begegnungen gefüllte Tage. Neben den Erinnerungen an viele Menschen, die uns herzlich aufgenommen, über ihr Leben, ihre Sorgen, ihre Erfolge und Visionen erzählt haben, denken wir vor allem über Folgendes nach.
Wenn frau für ein besseres Leben, eine bessere Gesellschaft kämpft, dann steht man immer vor Fragen: Wie wird diese Gesellschaft aussehen? Wie wird sie organisiert? Dafür haben wir viele Beispiele gefunden, die von außergewöhnlich kompetenten und engagierten Menschen getragen werden. In praktisch allen Projekten und Initiativen, die wir besuchen konnten, spielen drei Komponenten zusammen.
1. Die Menschen organisieren ihre unmittelbaren Bedürfnisse, indem sie sich austauschen und kooperieren.
2. Sie entwickeln dabei eine Kultur des Miteinanders, der Verständigung und Aushandlung, die die Achtung vor Minderheiten, Chancengleichheit der Geschlechter und Antirassismus einschließt. Gleichzeitig setzen sie auf historisches Bewusstsein, arbeiten sie die Erfahrungen und gesellschaftlichen Modelle vorangegangener Generationen systematisch auf.
3. Sie entwickeln dabei ökonomische Modelle, die nicht mehr nach den kapitalistischen Prinzipien funktionieren. Ein dickes Brett, welches sie da bohren. Sie wirkten dabei mutig, selbstbewusst und unerschrocken auf uns, im gemeinsamen Handeln somit ganz und gar nicht resigniert.
Anders allerdings sind ihre Antworten, wenn sie über die Perspektiven eines von Spanien unabhängigen katalanischen Staates resümieren. Zehn Jahre Kampf um Unabhängigkeit, die damit verbundenen Repressionen und Enttäuschungen haben diese Region und ihre Menschen geprägt. Wir können dies menschlich sehr gut nachvollziehen. Wenn progressive Gesetze wie die neuen Wohngesetze immer wieder von der reaktionären spanischen Gerichtsbarkeit einkassiert oder aufrechte Menschen zu langen Gefängnisstrafen verurteilt werden, dann ist Resignation nur zu verständlich. Aus unserer Sicht kann dies – bei allem Verständnis – politisch aber auch ihren Blick verengen. Man kann wohl einschätzen, dass die bisherige Strategie im Kampf um die Unabhängigkeit gescheitert ist. An dieser Stelle sollte der Blick vielleicht wieder für Strategieänderungen geöffnet werden – auch für neue Bündniskonstellationen – bevor sich Enttäuschung und Demotivierung in der nationalen Frage auf die sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Kämpfe an der Basis auswirken.Wir hoffen sehr, dass es gelingt.
Einen weiteren Bericht zu dieser Reise gibt es hier.