Krieg um die Ukraine

Krieg um die Ukraine 1

Seit nunmehr über 20 Jahren frage ich mich, welche Nachrichtenwert die Börse vor acht, die vor der Tagesschau ausgestrahlt wird, für die Mehrheit Zuschauer*innen in der Bundesrepublik hat. Etwa 17 % der Bevölkerung in Deutschland besitzen in irgendeiner Form Aktien und die Frage wie die Mieten steigen, hat wahrscheinlich mehr Auswirkung auf das Leben der Menschen, als die Schwankungen des DAX. Wenn also schon Aktienkurse, dann wäre vielleicht interessant gewesen, den Kurs der Aktie von Rheinmetall zu verfolgen, der von Mitte Februar 2022 bis Mai 2022 von etwa 100€ auf um die 220€ gestiegen ist.
Warum Rheinmetall? Rheinmetall ist der größte Rüstungskonzern der Bundesrepublik und produziert unter anderem die Marder, deren Auslieferung das Kanzleramt gerade verzögert, wie sich der ehemalige Minister für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit und nun Rheinmetall Berater Dirk Niebel beschwert. und damit sind wir beim Thema.

Krieg in der Ukraine

Am 24. Februar 2022 marschiert die russische Armee in die Ukraine ein. Die Begründung für diese Agression ist eine vom Gebiet der Ukraine ausgehende Bedrohung der Souveränität Russlands und eine deswegen notwendige Denazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine. Schnell wird klar, dass Putin ein Menschenmörder und Verrückter ist, und diplomatische Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts zum Scheitern verurteilt sind. Es geht wieder: WIR gegen SIE.

Für Bundesfinanzminister Lindner ist es ein Krieg um eine Werteordnung.
Sagen wir es in aller Klarheit: Putin hat die Ukraine angegriffen, weil sich ein souveräner Staat in freier Selbstbestimmung dafür entschieden hat, seinen Weg nach Westen zu gehen.
Die Ukraine ist ein souveräner Staat, und sie hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht, über ihre Zukunft zu entscheiden. Sie hat sich gegen Autoritarismus entschieden. Sie hat sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entschieden – und dafür ist sie angegriffen worden.….
Wir sind aber zugleich auch entschlossen: Wir ziehen diejenigen mit den Mitteln des Rechts zur Rechenschaft, die Verantwortung dafür tragen, dass das Völkerrecht gebrochen wurde. Wir werden Russland isolieren – wirtschaftlich, finanziell und politisch.

Außenministerin Baerbock -auf den Schultern der Transatlantikerin Albright stehend- geht noch einen Schritt weiter, verkündet umfangreiche und schnelle Sanktionen und meint dazu: “ Das wird Russland ruinieren.”

Und Kanzler Scholz verkündet das bisher umfangreichste Aufrüstungsprogramm und spricht von einer Zeitenwende.

Seitdem werden mit einer atemraubenden Geschwindigkeit Erkenntnisse und Positionen aufgegeben, die über Jahrzehnte die deutsche Europapolitik bestimmten. Nicht mehr die Rede von der Entspannungspolitik Willy Brandts, die zwei Jahre nach dem Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei in den Ostverträgen mündete, weg mit dem Grundsatz, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Diplomatie hat ausgedient, eine Lösung auf dem Verhandlungsweg ist nur möglich, wenn Russland zuvor in die Knie gezwungen wurde. Alles andere ist mindestens naiv, wenn nicht sogar zynisch und menschenverachtend. Und die Vorgeschichte und die Rolle der NATO dabei zu thematisieren, das geht schon mal gar nicht, meint zumindest Markus Lanz und auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags. Sie hat ja gerade ein Abo im Deutschen Fernsehen, wie zum Beispiel sowohl bei Lanz als auch bei Phoenix, wo sie mit Sevim Dagdelen aneinandergeriet.

Worum geht es in diesem Krieg eigentlich?

Dabei ist die Vorgeschichte ziemlich aufschlussreich, wenn man sich klarmachen will, warum ist in diesem Krieg eigentlich geht.

Russland

Am 31. Dezember 1991 löst sich die Sowjetunion auf und besiegelt damit die Niederlage des sozialistischen Lagers im Kalten Krieg. In der Folge (und auch bereits zuvor) entstehen eine Reihe von neuen Nationalstaaten, zum Teil in historischen Grenzen. Der Kern der bisherigen Sowjetunion, Russland, stürzt ins Chaos.

Russland öffnet sich dem Neoliberalismus

Am 2. Januar 1992 werden von Präsident Jelzin die Verbraucherpreise freigegeben. Das ist der erste Schritt der Schocktherapie, mit deren Hilfe Russland in die freie Marktwirtschaft überführt werden soll. Sie zeigt auch Wirkung. Die Läden füllen sich mit Waren und die Inflation klettert innerhalb eines Jahres auf 2600% (Nein, das ist kein Tippfehler). Die Industrieproduktion sinkt bis 1997 um 42% und die Realeinkommen bis 1995 um 45%. Die Staatsunternehmen werden in den folgenden Jahren mittels eines windigen Voucher Systems privatisiert. Eine Kapitalistenklasse entsteht, die wir heute gemeinhin Oligarchen nennen. Russland ist im Kapitalismus angekommen. Und von der einstigen Weltmacht ist wenig übrig geblieben. Ja, Atomwaffen hat Russland noch, und Bodenschätze.

Putin ändert den Kurs

2000 kommt Putin an die Macht. In der Zeitschrift Marxistische Erneuerung beschreibt Felix Jaitner seine erste Amtszeit so: Die Politik der ersten Putin-Administrationen (2000-2008) war eine Reaktion des Machtblocks auf die spezifischen Dysfunktionalitäten des unregulierten neoliberalen Kapitalismus der 1990er-Jahre in Russland und verfolgte das Ziel, die Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zu verbessern. Ein wichtiger Schritt dazu bestand in der Stärkung der Autonomie des Staates gegenüber dem unter Jelzin so mächtigen Großkapital. Die Neuordnung gesellschaftlicher Herrschafts- und Machtverhältnisse in Russland kann als oligarchisch-etatistische Ordnung beschrieben werden und umfasst vier zentrale Pfeiler: (1) Die Zentralisierung politischer Macht in der Exekutive und die Stärkung der staatlichen Gewaltapparate, (2) die ideologische Neuausrichtung des herrschenden Blocks, (3) die Stabilisierung sozialer Verhältnisse und (4) die partielle Modernisierung der Ökonomie.

Russland rappelt sich wieder hoch. Und es versucht an vergangene Zeiten anzuknüpfen. Wie Perry Anderson in der New Left Review schreibt: Zu Beginn seiner Amtszeit betonte Putin nicht nur, dass das Land historisch zu Europa gehöre, sondern auch, dass es eine gemeinsame Identität mit der am weitesten entwickelten Region habe: „Wir sind Westeuropäer“. Er deutete sogar an, dass das Land der Nato beitreten könnte. Jedoch unter einem Vorbehalt. Moskau hatte den Anspruch aufgegeben, eine Alternative zur Zivilisation des Kapitals und ihren politischen Formen zu bieten. Aber es hatte nicht auf sein Recht auf Autonomie innerhalb dieser Zivilisation verzichtet. Russland würde weiterhin seine eigenen, weit in die Geschichte zurückreichenden Traditionen aufrechterhalten. In seiner „Millenniumsbotschaft“ an der Schwelle zu seiner Präsidentschaft erläuterte Putin das zentrale Thema dieser Traditionen:Für uns haben der Staat und seine Institutionen und Strukturen immer eine außerordentlich wichtige Rolle im Leben des Landes und der Menschen gespielt. Für die Russen ist ein starker Staat keine Anomalie, die es zu bekämpfen gilt. Ganz im Gegenteil, er ist die Quelle und der Garant der Ordnung, der Initiator und die Hauptantriebskraft jeder Veränderung.“ Gegenüber dem Ausland bedeutete dies, Russland würde weiterhin als eine der Großmächte agieren, die es seit dem achtzehnten Jahrhundert war.

Sucht man Gründe für den Einmarsch Russlands in die Ukraine, so wird man hier fündig. Russland war eine imperiale Großmacht und das Russland Putins will es wieder werden.

Die USA und die NATO

Wir kehren zurück in das Jahr 1990. Die Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist entschieden und für die kapitalistische Hauptmacht, die USA, stellt sich nun die Frage wie mit dem bisherigen Gegner umgehen? Klar, dass kapitalistische Strukturen durchgesetzt werden müssen (und d.h. im Kern Privateigentum an Produktionsmitteln, wie Fabriken, Rohstoffe usw.), aber andererseits darf auch kein Konkurrent herangezogen werden.

Zunächst sieht noch alles gut aus. Am 21. November 1990 unterschreiben die Staatschefs der EU, der Vereinigten Staaten, Kanadas und der Sowjetunion die Charta von Paris für das neue Europa und erklären die Teilung Europas und den Kalten Krieg für beendet. In der Folge wird wenige Monate später der Warschauer Pakt, das Militärbündnis der sozialistischen Staaten, aufgelöst. Jetzt könnte man erwarten, dass sich auch das westliche Bündnis, die NATO auflöst. Auch wenn es dazu nicht kommt, so wird zumindest vereinbart, dass die NATO sich nicht weiter ausdehnt, und vor allem keine Staaten des ehemaligen Ostblocks in das Bündnis aufnimmt. Ein Versprechen, das von Seiten der NATO nicht lange eingehalten wird. Wie sich die NATO seitdem entwickelt hat, kann man einem factsheet des ISW entnehmen.

Ein Schlüssel, um Russland klein zu halten, ist die Ukraine. In seinem Buch The Grand Chessboard – American Primacy and Its Geostrategic Imperatives schreibt Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter: „Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war.“ – „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ – „Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch.“

Will man Russland als kapitalistischen Konkurrenten also dominieren, dann muss ein Keil zwischen die Ukraine und Russland getrieben werden. Das ergibt aus der Sicht der USA geostrategisch einen Sinn, aber auch wirtschaftlich, wie wir noch sehen werden.

Die Ukraine

Die Ukraine existiert nach einer wechselvollen Geschichte, mit Zugehörigkeit zu Polen, dem Zarenreich, Österreich-Ungarn als Staat in den heutigen Grenzen noch nicht lange. Ende 1990 setzen sich die Präsidenten der drei Sowjetrepubliken Russland, Weissrussland und der Ukraine zusammen und beschließen die Aufteilung der Sowjetunion. Die Folgen in der nun unabhängigen Ukraine sind in etwa die gleichen, wie oben für Russland beschrieben, Hyperinflation, Korruption, die durchschnittliche Lebenserwartung sinkt auf knapp über 60 Jahre, die Bevölkerungszahl von 52 Millionen auf (gegenwärtig) 45 Millionen. Wirtschaftlich bleibt die Ukraine weiterhin stark von Russland abhängig, vor allem die Schwerindustrie benötigt Gas- und Ölimporte aus Russland.
Die USA fördern nach Aussage von Victoria Nuland die Demokratie in der Ukraine zwischen 1991 und 2013 mit etwa 5 Milliarden Dollar. Das National Endowment for Democracy, entstanden aus Roland Reagans Kreuzzug für die Demokratie, unterstützt Hunderte von Projekten in der Ukraine, Radiosender, Internetauftritte, Unternehmensverbände und noch einiges mehr. Im gleichen Zeitraum werden „mindestens 10.000 Männer der ukrainischen Streitkräfte pro Jahr“ „mehr als acht Jahre lang“ an NATO-Waffen ausgebildet, wie das Wall Street Journal am 13. April 2022 in einem Artikel mit der Überschrift: „The secret of Ukraine’s military success: years of NATO training“ berichtet.

Das Tauziehen geht mit wechselndem Erfolg bis etwa 2014. Mit der Bewegung des Euromaidan setzt sich der prowestliche Kurs schließlich durch. Mit dieser Protestbewegung setzt sich die ukrainische Zivilgesellschaft gegen den Kurs der damaligen Regierung zur Wehr, die verkündet hatte, dass sie ein Assoziierungsabkommen mit der europäischen Union nicht unterzeichnen würde. Andere Stimmen bezeichnen die Vorgänge als geplanten Regime Change.

In der Folge steigt der Umfang der Investitionen von US-Firmen, vor allem in den Agrarsektor, enorm an. Die Russen besetzten die Krim, im östlichen Teil der Ukraine entstehen Separationsbewegungen, die von Russland unterstützt werden und in einem Krieg enden, der seit 2014 andauert, aber von der deutschen Öffentlichkeit nur wenig wahrgenommen wird. Seit 2019 regiert nun Präsident Selenskyj, der eine erstaunliche Karriere vom Schauspieler zum Volkshelden hingelegt hat.

Im Ergebnis kann man festhalten, dass die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit ein Spielball zwischen zwei kapitalistischen Blöcken ist, deren Bevölkerung die furchtbaren Folgen dieser Auseinandersetzung nicht erst seit dem 24. Februar zu tragen hat.

Krieg um die Ukraine

Die ganzen Voraussetzungen betrachtend, muss man zu dem Schluss kommen, dass es sich nicht um einen Krieg in der Ukraine, sondern um einen Krieg um die Ukraine handelt. Man kann nicht voraussagen wann er endet, und auch nicht mit welchem Ergebnis. Aber bereits jetzt ist klar, dass die Welt danach nicht mehr so aussehen wird wie vorher.

Für das deutsche Kapital bricht auf voraussichtlich längere Zeit ein billiger Energie- und Rohstofflieferant weg, der die Grundlage für einen Wettbewerbsvorteil der deutschen Exportwirtschaft dargestellt hat. Welche Auswirkungen das auf die Vorherrschaft Deutschlands in der EU hat, ist eine der Fragen, die sich in Zukunft stellen wird. Für die EU wird spannend sein, wie sie die Inflation und die vorherzusehende Rezession bewältigen wird. Für die USA ist dieser Krieg aus meiner Sicht nur ein kleiner Baustein in der großen Auseinandersetzung mit China. Ob es ein kluger Schachzug war, kann man jetzt noch nicht beurteilen. Russland scheint im Moment der Verlierer zu sein. Aber auch das ist noch nicht ausgemacht.

Insgesamt wird man diese Jahre in der Zukunft vielleicht als eine der systemischen Krisen des Kapitalismus betrachten, in der der gesamte Produktionsapparat umgewälzt wurde und die Karten neu gemischt wurden. Das wird über die aktuellen Ereignisse hinaus zu beobachten und zu analysieren sein.

Nachbemerkung: An diesem Post habe ich über einen längeren Zeitraum geschrieben, weil ich wie die meisten erst einmal Zeit brauchte, um das Ganze zu verarbeiten. Zu Anfang herrschte in großen Teilen der Linken offensichtlich das Bedürfnis vor, sich von früheren Positionen zu distanzieren, oder zu dokumentieren, dass man diese Position niemals vertreten hätte. Das hat sich inzwischen, soweit ich das sehe, ein wenig relativiert. Es sind viele Artikel und Beiträge veröffentlicht worden, die helfen, die Ereignisse und deren Folgen genauer einzuschätzen.
Für mich hilfreich waren zwei Bücher, die beide vor dem 24.Februar erschienen sind. Das eine ist Entender la rusia de Putin von Rafael Poch, bisher nur in Spanisch veröffentlicht. Poch war lange Jahre Korrespondent verschiedener renommierter Zeitungen in Russland China und Deutschland und hat einen klaren Blick und enormes Detailwissen. Das zweite, Bürgerkrieg in der Ukraine, von Rainhard Lauterbach beschäftigt sich mit dem Bürgerkrieg seit 2014 und und gibt auch einen detailreichen Überblick über die bisherige Geschichte der Ukraine.
Ein interessantes Interview mit Volodymir Ishchenko erschien in der New Left Review 133/134. Ich habe davon eine Rohübersetzung gepostet.