Die Smarte Stadt neu denken

Die Smarte Stadt neu denken

Evgeny Morozov und Francesca Bria weisen in Die Smarte Stadt neu denken auf die Notwendigkeit hin, sich mit dem Konzept der Smart City auseinanderzusetzen. Dabei geht es ihrer Ansicht nach nicht darum, das Konzept rundweg abzulehnen, sondern dem neoliberalen Entwurf einen eigenen fortschrittlichen entgegenzusetzen. Sie beschreiben das Dilemma, in dem Städte mit knappen Ressourcen stehen, und die deshalb in der Smart City einen Ausweg sehen und machen Vorschläge, wie sich kommunale Politik verhalten soll.

Vorwort

immer mehr Menschen ziehen in Städte. Sie versprechen sich Zugang zu Arbeitsplätzen, bessere Lebensbedingungen und eine größere Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. 

Im Vorwort setzen die Autor:innen das Konzept der Smart City in Beziehung zu der Funktion der Städte als Lokomotiven kapitalistischer Akkumulation.

Tatsächlich ist der maßgebliche Gestaltungskontext für die meisten Städte zumindest in Nordamerika und in wesentlichen Teilen Westeuropas der Neoliberalismus, oder um genauer zu sein: der Übergang vom Zeitalter des fordistisch-keynesianischen Klassenkompromisses in den Nachkriegsjahrzehnten hin zum unternehmerischen und finanzialisierten Urbanismus,der in den späten 1970er Jahren aufkam und sich seitdem immer weiter ausgebreitet hat. Von daher sollte jede Studie zur Dominanz der Smartness-Ideologie – genauso wie jeder Versuch, darüber hinauszudenken – damit beginnen, dass man untersucht, wie sie sich in das allgemeine Set von neoliberalen Vorgaben und Zwängen einfügt, mit denen die Handlungsautonomie der Städte nach und nach beschnitten worden ist, und wie sie mit den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen korrespondiert, welche die Städte in den zurückliegenden 30 Jahren mehrheitlich getroffen haben. (S.7)

Basierend auf diese Einschätzung stellen Sie einen Zusammenhang her zwischen der digitalen Infrastruktur und dem oben beschriebenen Kontext.

Smart Cities ziehen smarte Bürger:innen an und smarte Bürger:innen ziehen smartes Geld an. Damit scheint im Prinzip alles Wesentliche gesagt. (S.6)

Dem setzen Sie eine andere Definition von Smart City entgegen:

Im Rahmen dieser Studie beziehtsich «smart» auf alle in den Städten zur Anwendung gebrachten fortgeschrittenen Technologien,die darauf abzielen,die Nutzung von Ressourcen zu optimieren,neue Ressourcen bereitzustellen oder das Verhalten ihrer Nutzer:innen zu verändern,oder die eine Reihe von anderen Vorteilen versprechen, sei es mehr Flexibilität, mehr Sicherheit oder mehr Nachhaltigkeit. Solche Zugewinne,wenn sie denn eintren,verdanken sich in erster Linie sogenannten Rückkopplungseffekten, die automatisch beim Einsatz von intelligenten und mithilfe von Sensoren und/oder Monitoren vernetzten Geräten auftreten. (S.8)

DIE SMARTE STADT: EINE GEGEN-ERZÄHLUNG

Im folgenden zählen sie drei Beweggründe auf, die Kommunen dazu bringen können, sich auf Smart-City Lösungen einzulassen.

Gründe für Städte

Mithilfe des Einsatzes von Technik sollen allgemein akzeptierte politische Ziele umgesetzt werden. Es soll die politische Teilhabe der Bevölkerung ausgeweitet werden, öffentliche Dienstleistungen an verschiedene individuelle Bedürfnisse angepassst, die Verwaltungen entbürokratisiert, sowie ein angenehmeres und weniger diskriminierendes urbanes Umfeld geschaffen werden, das zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums beiträgt, gesellschaftliche Spannungen reduziert und Kreativität sowie Innovation befördert.

Manche Städte setzen auf smarte Technologien,weil sie unter dem Druck von Haushaltskürzungen und Austeritätspolitiken stehen und sich von technischen Neuerungen erhebliche Einsparungen versprechen, ohne bestimmte Dienstleistungen ganz einstellen zu müssen.

Weiterhin gibt es Städte, die auf smarte Technologien setzen, weil sie sich davon versprechen, dass diese für sie ein ganz bestimmtes Problem lösen können: etwa häufige Staubildung, verursacht durch den maroden Zustand der Straßen. Schließlich versprechen sich Städte einen Imagegewinn im Konkurrenzkampf um wirtschaftliche Anziehung oder Touristenströme.

Der Smart-City Markt und damit zusammenhängende Technologien

Smarte Technologien für Städte werden als Zukunftsmarkt betrachtet. Dementsprechend tummeln sich dort große Firmen, wie etwa Siemens, IBM, Cisco oder Phillips.

Nach Schätzungen von wichtigen Unternehmensberatungen wird der Smart-City-Markt demnächst die Grenze von drei Billionen US-Dollar knacken und damit alle traditionellen Wirtschaftszweige überflügeln. Das McKinsey Global Institute etwa beziffert den potenziellen wirtschaftlichen Effekt der im Zusammenhang mit dem «Internet der Dinge» stehenden Anwendungen und Produkte für das Jahr 2025 auf einen Wert von 3,9 bis 11 Billionen US-Dollar. Das «Internet der Dinge» ist eine zentrale Komponente vieler Smart-City-Technologien. (S.15)

Smart Cities und Überwachung

Ein Großteil des Mehrwerts von smarten Technologien besteht darin, dass sie eine große Menge Daten in andere Verarbeitungsysteme integrieren. Dort werden sie miteinander in Beziehung gesetzt und können so zum Beispiel auch zur Überwachung der Bürger:innen verwendet werden.

Smart Cities jenseits des Globalen Nordens

Im Unterschied zu Westeuropa und Nordamerika und einigen Teilen Südamerikas, wo der Smart-City-Diskurs sich auf die Verbesserung von Infrastruktureinrichtungen bestehender Städte konzentriert, gibt es in Asien, insbesondere in Indien und in einem geringeren Umfang in China, zahlreiche Beispiele von Smart Cities, die von Grund auf neu gebaut wurden. Während der dominierende Smart-City-Diskurs im Globalen Norden häufig die Notwendigkeit betont, (bereits existierende) kommunale Dienstleistungen und Infrastrukturen zu privatisieren, drehen sich entsprechende Diskussionen im Globalen Süden meist um staatlich gesteuerte Urbanisierungsprozesse und deren Anforderungen sowie um die Regulierung von vormals informellen Sektoren und Services. (S.19)

SMARTNESS UND NEOLIBERALISMUS

In einer vom Neoliberalismus geprägten Wirtschaft und Gesellschaft stehen Städte unter dem Druck, sich in Konkurrenz mit anderen Städten zu behaupten, um an nötige Finanzmittel zu kommen. Dies hat zu zahlreichen Rankings geführt, denen sich die Städte unterwerfen müssen. Die damit verbundene Notwendigkeit, Attraktivität, Dienstleistungen und sonstiges quantfizieren zu müssen, führt zum vermehrten Einsatz von smarten Technologien. Dabei werden diese, gerade wegen der Finanznot der Städte, oft outgesourced. Das bedeutet eine weitere Kommodifizierung.von Leistungen, die bisher von öffentlichen Institutionen erbracht wurden.

Seit etwa drei Jahrzehnten – seit der in Westeuropa und Nordamerika dominierende Korporatismus und «eingebettete Liberalismus» immer mehr abgelöst wurden von einer Logik,die vor allem auf hochgradig globalisiertes und liquides Kapital setzt und die Interessen des Finanzkapitals über die Bedürfnisse aller anderen gesellschaftlichen Bereiche (selbst des produktiven Sektors) stellt – finden sich Städte genauso wie die meisten anderen Einheiten der Gesellschaft in einer Art Zwangslage wieder: Auf der einen Seite steigt der Druck, wohlfahrtstaatliche Einrichtungen und Leistungen abzubauen und Mittel einzusparen, andererseits wird von den Kommunen erwartet, ständig neue innovative unternehmerische Politiken zu entwickeln und umzusetzen.
Zwei dieser Prozesse sind für unser Thema von besonderer Relevanz: zum einen das Outsourcing von bestimmten Tätigkeiten, für die zuvor öffentliche Instanzen zuständig waren,an private Akteure,und zum anderen die Einwerbung von privatem Kapital – aus Rentenfonds, Versicherungsgesellschaften und alternativen Vermögensverwaltungsfonds – für die Finanzierung von meist kommunalen Infrastrukturprojekten. (S.23)

STÄDTE DES PRIVATISIERTEN KEYNESIANISMUS

Die Entwicklung der Städte vollzieht sich nicht im luftleeren Raum und hängt nicht nur von der lokalen Politik ab. Vielmehr bewegen sich die Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen nationaler und internationaler Entwicklungen. 

Praktisch heißt das: Der Reiz, den schnell anwendbare technologische Lösungen auf viele städtische Beamte ausüben, lässt sich nicht allein auf deren ideologische Verwirrung oder auf ihre Technikgläubigkeit zurückführen. Vielmehr existieren auch strukturelle Gründe, warum es für viele Stadtverwaltungen eine attraktive Option sein kann, Technologieunternehmen in kommmunale Steuerungsprozesse einzubinden. (S.32)

SMARTE AUSTERITÄT

Für Städte hat die Weitergabe von Daten gegen Dienstleistungen für ihre Bürger durchaus ihren Reiz. da diese in der kommunalen Bilanz nicht als Werte auftauchen, sind die dafür gewährten Dienstleistungen quasi kostenlos.
Langfristig begeben sich die Städte natürlich in eine gefährliche Abhängigkeit, da die Dienstleistungen nicht mehr aus eigener Kraft betrieben werden können. 

Wir beobachten also gerade die Entstehung eines weiteren Teufelskreises: Die hinter Privatisierungen und Austeritätspolitik stehende Logik und die Probleme, die diese mit sich bringen, drohen noch mehr Städte in die Arme von Technologiekonzernen zu treiben, die sie mit dem Angebot neuer einzigartiger und unverzichtbarer Produkte und Services, die auf künstlicher Intelligenz basieren, ködern, sodass kommunale Verwaltungen den Weg der Privatisierungen immer weiter verfolgen – und das alles wird begründet mit dem Zwang,die laufenden Kosten senken zu müssen. (S.39)

Deswegen ist es auch wichtig, bei der Kritik der Entwicklung hin zur smarten Austerität, die Stadtverwaltungen nicht als Gegner, sondern als Opfer zu begreifen.

IST TECHNOLOGIE-SOUVERÄNITÄT DIE LÖSUNG?

Einzelne Städte oder auch Stadtverbünde sind gegenüber grossen Konzernen in Bezug auf Ressourcen und Finanzen deutlich im Nachteil. Deshalb kommen Evgeny Morozov und Francesca Bria zum Schluss, dass es nicht ausreicht, nur auf lokaler Ebene zu kämpfen.

Die politischen und wirtschaftlichen Modelle,auf deren Grundlage die meisten unserer Städte funktionieren,sind nicht auf der lokalen, sondern auf der nationalen Ebene bzw. im globalen Kontext entstanden und werden von diesen gestützt. Wenn wir diese verändern oder durch neue Modelle ersetzen wollen, müssen wir auch auf diesen beiden Ebenen kämpfen.(S.45)

Darüber hinaus, spielen die zentralen Infrastrukturen, auf denen das Konzept der Smartness beruht und die Verfügungsgewalt darüber eine bedeutende Rolle.

Diese Infrastrukturen setzen sich zusammen aus dem technischen Equipment (Sensoren, Verkabelung, Rechenzentren usw.), mit deren Hilfe Daten erfasst und gespeichert und durch Algorithmen ausgewertet werden.

Wenn Städte erst einmal die Kontrolle über diese Meta-Utility verloren haben, dann wird es für sie immer schwieriger werden, nicht-neoliberale Ansätze auch in vorgeblich nicht-technischen Bereichen wie im Energie- oder Gesundheitswesen durchzusetzen. Es spricht einiges dafür,dass smarte Technologien eben einen bestimmten Entwicklungspfad vorgeben: Einen Hightech-Sozialismus mithilfe von neoliberalen Infrastrukturen zu schaffen wird wohl unmöglich sein. (S.48-49)

Dagegen setzen die Autor:innen Das Konzept der Technologie-Souveränität.

Es bietet eine Orientierung für alle Kommunen, die sich eine gewisse Eigenständigkeit erhalten und zwischen sich und den mächtigen Technologieanbietern eine Art Pufferzone einrichten wollen. Dahinter steht die relativ simple Idee,dass die Bürger:innen mitentscheiden sollten,wie die sie umgebende technologische Infrastruktur funktioniert und welchen Zwecken sie hauptsächlich dienen soll. Der Gedanke der Souveränität – ob nun im Zusammenhang mit der Energieversorgung oder in Bezug auf dasFinanzwesen – spielt in vielen sozialen Bewegungen eine Rolle,auch in den städtischen Bewegungen, die in jüngster Zeit vielerorts kommunale Führungspositionen übernommen haben.

Wichtig erscheint den Autor: innen, dass diese Souveränität sich über die gesamte Infrastruktur erstreckt. Etwa nur die Hoheit über die Daten zu beanspruchen, nützt zum Beispiel nichts, wenn nicht auch die technische Infrastruktur zur Auswertung der Daten in der eigenen Hand ist.

STRATEGISCHE INTERVENTIONEN UND POTENZIELLE BÜNDNISPARTNER

in diesem Kapitel beschäftigen sich die Autor: innen mit den strategischen Interventionen, die Städte vornehmen können. Sie sehen dabei drei Felder:

  1. Städte stehen vor der Aufgabe, nachzuweisen, dass die angebotenen neoliberalen Modelle eher Schaden verursachen, als Nutzen bringen.
  2. Sie müssen gleichzeitig nachweisen, dass man deswegen nicht die neuen Technologien rundweg ablehnen sollte, sondern es Möglichkeiten gibt, sie zu nutzen, der Stadtgesellschaft einzusetzen.
  3. Sie müssen Pilotprojekte definieren, in dem diese Einsatzmöglichkeiten demonstriert werden können.
    Für wichtig erachten Sie dabei, mit den Daten alternativ umzugehen und sie nichtkommerziellen Projekten zur Verfügung zu stellen, und diese zu fördern.

JENSEITS DER NEOLIBERALEN SMART CITY: COMMONS UND DEMOKRATISCHE ALTERNATIVEN

Als eine wichtige Voraussetzung sehen Sie die konsequente Nutzung von Open Source Software an.

Eine weitere Voraussetzung,um so etwas wie Technologie-Souveränität zu erlangen,ist es,konsequent Open-Source-Software,offene Standards und offene Systemarchitekturen zu verwenden. Nur so lässt sich eine wirklich demokratische und progressive Technologiepolitik umsetzen,die in der Lage ist,einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung einer neuen produktiven Ökonomie zu leisten und einen kontinuierlichen Wissensaustausch zwischen Städten,Ländern und Bewegungen sicherzustellen (S.60)

Als Beispiel führen Sie Barcelona mit seiner Smart City Strategie an.

DAS RECHT AUF DIE DIGITALE STADT: DAS PRINZIP DER TECHNOLOGIE-SOUVERÄNITÄT

Aus ihren Erfahrungen heraus schlagen Sie neun Leitlinien vor, an denen sich kommunale Politik orientieren sollte.

  1. Es sollten alternative Formen des Dateneigentums eingeführt und erprobt werden.
  2. Alle kommunalen Informationsdienste sollten auf Open Source und Open Standards umgestellt werden und bei der Bereitstellung von Diensten sollten vermehrt agile Methoden zum Einsatz kommen.
  3. Das öffentliche Auftrags- und Vergabewesen ist durch die verstärkte Berücksichtigung von Aspekten wie Nachhaltigkeit,Innovation,ethische Standards und Geschlechtergerechtigkeit zu reformieren.
  4. Die kommunale Kontrolle über digitale Plattformen ist von entscheidender Bedeutung.
  5. Es werden alternative digitale Infrastrukturen benötigt.
  6. Bei der Bereitstellung von Diensten sollten kooperative Modelle bevorzugt werden.
  7. Es sind insbesondere Innovationen zu fördern,die einen Wert für die Öffentlichkeit und die Bevölkerung haben.
  8. Es bedarf einer Neuausrichtung von Sozialprogrammen. Dabei können komplementäre Währungssysteme auf der lokalen Ebene eine Rolle spielen.
  9. Eine kommunale Technologiepolitik sollte sich an den Prinzipien digitaler Demokratie und digitaler Souveränität orientieren.

Diese neun Leitlinien werden anschließend in einzelnen Unterkapiteln weiter ausgeführt.

FAZIT: BÜNDNISSE GEGEN DEN DIGITALEN RAUBTIERKAPITALISMUS

Im abschließenden Kapitel betonen Sie noch einmal die Wichtigkeit von Bündnissen zwischen Städten, sozialen Bewegungen und politischen Parteien. Ihre Einschätzung nach ist in 

den meisten Regierungen und öffentlichen Verwaltungen (..) die Einsicht noch nicht richtig angekommen,dass heutzutage die Frage des Zugangs zu und des Umgangs mit Daten im Zentrum gesellschaftlicher Machtverhältnisse liegt,also über die Verteilung von Einfluss und Macht mitbestimmt. (S.103)

Digitale Plattformen sind eine Meta-Infrastruktur, die alle anderen städtischen Bereiche wie öffentlicher Nahverkehr, Energieversorgung, Bautätigkeiten, Gesundheitsversorgung, Bildung usw.. durchdringen.  Über diese Meta-Infrastruktur die Hoheit zu gewinnen (oder wiederzugewinnen) ist eine der wichtigsten Aufgaben kommunaler Politik.

Die Lektüre des Buches macht noch einmal deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung um die technische Infrastruktur einer Stadt ist. Auch wenn in einer Stadt die Diskussion um Smart City nicht geführt wird, so vollzieht sich doch im Hintergrund beständig ein Ausbau dieser Infrastruktur. Ist diese einmal zu Ungunsten der städtischen Bevölkerung implementiert, so ist diese Entwicklung sehr schwer umzukehren. Schon allein deswegen sollte das Thema von linken und fortschrittlichen Kräften auf die Agenda der Stadtpolitik gesetzt werden