Wir Untoten des Kapitals

Wir Untoten des Kapitals

Die Ausgangsthese dieses Buches lautet, dass wir vor einem Epochenbruch stehen. Klimawandel, Digitalisierung und Veränderungen im geopolitischen Machtgefüge werden die Welt in den kommenden Jahren radikal verändern. Fraglich ist, ob es zu einem change by design oder by disaster kommt, also ob eine geplante Transformation gelingt oder die Menschheit nach Naturkatastrophen und Kriegen notgedrungen anders leben müssen wird als heute.“ Das Essay Wir Untoten des Kapitals von Raul Zelik illustriert diese Ausgangsthese und zeigt auf, was nötig ist, damit ein change by design durch einen grünen Sozialismus gelingen kann.

Geht man von der optimistischen These aus, dass ein change by design gelingt, so stellt sich auch hier die Frage, wer das Design liefern wird. Werden die Veränderungen von einer Eigentümerelite gestaltet, oder gelingt es in diesem Zuge demokratische Regeln und universelle Rechte durchzusetzen? Zelik schreibt dazu: „Wird die Ökonomie auch weiterhin als quasinatürlicher, privater Prozess betrachtet, in dem der demokratische Gleichheitsanspruch plötzlich nicht mehr gilt, wird die Menschheit nach dem tragischen 20. Jahrhundert in den nächsten großen Zyklus der Katastrophen eintreten. Die liberale Demokratie wird dann immer stärker zu einem Zombie mutieren, zu einem System, in dem Regierungen die sich beschleunigende Zerstörung nur verwalten und wir zwar regelmäßig zum politischen Personal befragt werden, aber auf die grundlegenden Prozesse keinen Einfluss haben. Auch deshalb ist die Gefahr eines Umschlags der liberalen Demokratie in faschistische Diktaturen so groß: Ein System, das einen Schleier über die tiefer liegenden ökonomischen Herrschaftsverhältnisse legt, befeuert die Suche nach
verschwörungstheoretischen Erklärungen für die nicht mehr zu übersehende Krise.
Wir sind die Untoten des Kapitals. Die Eigentumsfrage bleibt der zentrale Hebel, um sich aus dieser Fremdbestimmung zu befreien. Trotz ihrer Irrungen und Verbrechen war die sozialistische Bewegung des 20. Jahrhunderts die einzige Kraft, die diese Verknüpfung von Eigentum, Macht und politischer Unfreiheit erkannt hat.

Ziele linker Politik

Damit hält Zelik an dem Anspruch fest, dass die Linke einen gesellschaftlichen Gegenpol bildet, Gattungsfragen sind auch immer Klassenfragen,

Offenbar war es also nicht besonders hilfreich, dass die Linke den Anspruch aufgegeben hat, einen großen Gegenpol zu repräsentieren. Seitdem die globalen Klassenwidersprüche nicht mehr von links
thematisiert werden, hat sich bei der Bearbeitung der »Menschheitsprobleme« nicht besonders viel getan. Doch daran schließt natürlich sofort die Frage an, wofür dieses »links« heute eigentlich steht
.“

Zelik macht dies an sechs Kriterien fest.

Gutes Leben für alle

Gutes Leben für alle bedeutet, dass die materiellen Voraussetzungen für die grundlegenden Bedürfnisse wie Wohnung, Gesundheit, Bildung, Teilhabe für die ganzen Gesellschaft erfüllt sind. Nicht die individuelle Freiheit steht im Vordergrund, sondern: „Linker Politik muss es deshalb immer an erster Stelle um die materiellen Voraussetzungen für ein würdiges Leben gehen. Für die bürgerliche Aufklärung war die Abwesenheit von Bürgerkrieg und willkürlicher Gewalt schon Voraussetzung genug; für die Linke gehören Nahrungsmittel und Kleidung, eine intakte Natur oder die Bereitstellung kollektiver Infrastrukturen dazu. Sie sind die fundamentalen Bedingungen jeder Freiheit.“

Eine Gesellschaft der Solidarität

Im Kapitalismus ist das ökonomische Prinzip der Konkurrenz in alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen. „In einem von vertikalen Ungleichheiten geprägten Postwachstumskapitalismus, der mobilisierungsfähige intellektuelle Überzeugungssysteme für solidarisches Handeln marginalisiert, machen sich Klassenverhältnisse und Verteilungskämpfe bevorzugt im Modus der Konkurrenz, über eine permanente Scheidung der Gewinner von den Verlierern sowie mittels kollektiver Abwertungen
und Ausgrenzung sozialer Großgruppen bemerkbar
.“

Dies ist die Ursache für die Zersetzung sozialer Bindungen und führt zu sozialer Abgrenzung und dem Gefühl politischer Machtlosigkeit. „Solidarität ist jene soziale Praxis, die sich dieser Zerstörung des Zwischenmenschlichen widersetzt. Der Atomisierung und Verlassenheit stellt sie das Gemeinsame und Verbindende entgegen. Eine der einfachsten politischen Definitionen lautet deshalb: Links ist, was gesellschaftliche Gegenkräfte gegen die Markt-, Konkurrenz- und Inwertsetzungslogik mobilisiert und Solidarität organisiert.“

Demokratisierung

Der Demokratiebegriff der Linken muss weit über den Begriff der parlamentarischen Demokratie hinausgehen. „Wenn die Demokratieforderung von links neu besetzt werden soll, muss stattdessen die Erkenntnis im Vordergrund stehen, dass Demokratie und die Stärkung des Gemeineigentums zusammengehören, weil große Vermögen (neben der Staatsgewalt) die wichtigste Machtressource in modernen Gesellschaften darstellen.
Der Feminismus und die antiautoritäre Bewegung haben seit den sechziger Jahren dafür gesorgt, dass die sogenannten privaten Räume – Beziehungen, Familien, Kindererziehung, Wohnformen – demokratisiert worden sind. Wie eine uneinnehmbare Festung wirkt hingegen weiterhin das Wirtschaftsleben. Das ist der Grund, warum die Debatte um »Räte-«, »soziale« und »Wirtschaftsdemokratie« wieder ins Zentrum linker Politik rücken muss
.“

Jenseits der Geschlechter

Der Feminismus ist für Zelik die Bewegung, die in den letzten Jahrzehnten die Gesellschaft am erfolgreichsten verändert hat. Aber auch hier gibt es noch viel zu tun und Zelik zählt alles auf: Gender Pay-Gap, Kodierungen von Frauen- und Männerberufen, Gewalt gegen Frauen. Und er schliesst diesen Absatz: „Links wäre aber nicht nur, für Gleichberechtigung und ein Ende dieser Gewaltverhältnisse zu sorgen, sondern die binäre Geschlechterordnung selbst infrage zu stellen, wie es der queere Feminismus einfordert. In der Gender-Forschung hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich beim Körpergeschlecht um ein ganzes Set an Merkmalen handelt – äußere und innere Geschlechtsorgane, Hormone, Selbstwahrnehmung usw. –, die sich zwar mit den Begriffen »maskulin« und »feminin« beschreiben lassen, bei jedem Menschen jedoch anders kombiniert sind und deren Bedeutungen sich im Verlauf eines Lebens auch verändern. Für den queeren Feminismus ist deshalb nicht nur die Zuschreibung sozialer Rollen, sondern auch das Körpergeschlecht durch Sprache »konstruiert«. Dementsprechend geht es bei den Debatten um Transsexualität auch nicht, wie oft suggeriert wird, nur um das Identitätsproblem einer kleinen Minderheit: Hier werden für alle die Möglichkeiten erweitert, eine eigene Lebensweise jenseits feststehender Geschlechterbilder zu entfalten.“

Globale universelle Rechte und Antirassismus

Die Geschichte des Kapitalismus ist gleichzeitig eine Geschichte des Rassismus und der Sklaverei. „Der Kapitalismus entwickelte sich im 15. Jahrhundert mit der bewaffneten Erschließung von Handelsrouten und der Kolonisierung ganzer Kontinente. Es ist keine moralische, sondern eine historische Feststellung, dass die Geschichte der Märkte mit Sklaverei und Rassismus untrennbar verknüpft ist.“

Dieser globale Charakter des Systems ist heute ausgeprägter als je zuvor. Streiks in lateinamerikanischen Automobilfabriken machen sich innerhalb weniger Tage als Lieferengpässe in Europa bemerkbar, alte Handys und andere Elektrogeräte landen als Müllexport im Süden, und der Klimawandel, der im Wesentlichen von einem Zehntel der Weltbevölkerung verursacht wird – die reichsten zehn Prozent sind für die Hälfte der globalen Emissionen verantwortlich, die ärmsten fünfzig Prozent gerade einmal für drei Prozent –, trifft die untere Hälfte der Weltbevölkerung am stärksten.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nur solche Positionen als links gelten können, die den globalen Charakter der Verhältnisse zum Ausgangspunkt ihrer Politik machen und sich der Versuchung widersetzen, Solidarität national einzugrenzen. In den globalen Klassenverhältnissen, mit denen wir es zu tun haben, spielt der Rassismus eine zentrale Rolle. Er erklärt, naturalisiert und legitimiert soziale Spaltung und Ausbeutung, dient als gesellschaftliche Sollbruchstelle und bindet Teile der unteren Klassen in eine global ausdifferenzierte Herrschaft ein. Ohne Antirassismus und ein Verständnis vom Wirken rassistischer Strategien lassen sich universelle Rechte deshalb nicht verteidigen.

Eine radikale ökologische Wende

Die wichtigste Voraussetzung dass sozialer Fortschritt überhaupt möglich ist, ist für Zelik die ökologische Konversion der Produktions- und Lebensweise.

„In vielen europäischen Ländern haben Linke in den vergangenen Jahren darüber gestritten, ob in Anbetracht der besonders unter männlichen Arbeitern erstarkenden Rechten die »soziale Frage« und nicht ökologische Themen in den Vordergrund gestellt werden müsste. Die angeführten statistischen Zahlen legen nahe, dass es genau andersherum ist: Klassengegensätze und ökologische Krise sind auch in den Industrieländern untrennbar miteinander verschränkt. Reiche tragen viel stärker zum Klimawandel und zur Naturzerstörung bei, Arme werden viel massiver unter den Folgen zu leiden haben, weil sie weniger Ressourcen besitzen, um sich zu schützen. Links ist deshalb nur eine Politik, die Schnittstellen zwischen ökologischen und sozialen Kämpfen aufzeigt. Es gilt, einen Begriff von Wohlstand und gutem Leben zu entwickeln, der eine Perspektive jenseits des fordistischen Paktes aus Wertschöpfung und Konsumismus eröffnet.

Ein linker Green New Deal

Wie lassen sich diese linken Ziele in praktische Politik umsetzen? Auch wenn er den Begriff für problematisch hält, macht sich Zelik dafür stark, einen linken Green New Deal als Transformationsprojekt anzugehen.

Was also wären konkrete Reformen, um den oben genannten Zielen – vom guten Leben für alle bis zur ökologischen Konversion – näher zu kommen? Vieles steht bereits in den Programmen von Gewerkschaften und linken Parteien, aber weil es selten zur Kenntnis genommen wird, will ich, auch wenn ich Gefahr laufe, Bekanntes zu wiederholen und Wichtiges zu vergessen, skizzieren, was das wäre: ein linker Green New Deal, der den weiter oben genannten normativen Zielen verpflichtet ist.

Er fasst dies in sechs Punkten mit teilweise sehr konkreten Vorschlägen zusammen.

Work less and public services

Dies ist für mich eines der interessantesten Kapitel des Buches: „Wenn es wahr ist, dass ein gutes Leben nicht nur auf Freiheitsrechten, sondern darüber hinaus auf der Versorgung mit materiellen Gütern und einer Existenz jenseits der Arbeit beruht, dann waren die Bedingungen hierfür noch nie so gut wie heute. Die Automatisierung ermöglicht uns, mehr mit weniger Aufwand als früher herzustellen.

Er arbeitet sich an Arbeitszeitverkürzung und den positiven Folgen ab, stellt fest, dass „…in unserer Gesellschaft Automatisierung nicht zu einer Befreiung von schwerer oder stupider Arbeit, sondern zu Arbeitslosigkeit und Armut führt und damit die Bereitschaft erhöht, noch stupidere und schwerere Arbeit auszuüben, ist kein Naturgesetz. Es ist einzig und allein eine Verteilungsfrage. Mit dem Anbruch der »Wissensgesellschaft« erlangte diese Frage eine ganz neue Dimension. Wissen hat die bemerkenswerte Eigenschaft, dass es sich »geteilt«, also nicht eingehegt durch private Eigentumstitel, (sprich: »kollektiviert«) am besten entfaltet – weshalb öffentliche Bibliotheken in der Kulturgeschichte immer eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Automatisierung bewirkt nun, dass der gesellschaftliche Reichtum immer weniger durch die konkrete Arbeit Einzelner und immer mehr durch technisches Know-how hergestellt wird. Anders ausgedrückt: Der general intellect, das allgemeine Menschheitswissen, wird zum wichtigsten Produktionsfaktor, und dementsprechend kann der hergestellte Reichtum auch mit größerem Recht als bisher gesellschaftlich beansprucht werden.

Gleichheit

Was fördert Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt? Nach Zelik ist es die Alltagspraxis der Betroffenen selbst. Die Stärke der europäischen Arbeiterbewegung beruhte auf der Existenz eines Solidarmilieus von Bildungsvereinen, Solidarkassen usw.

„Wenn diese Beobachtung stimmt, dann muss es ein zentraler Aspekt progressiver Politik sein, eine kulturelle Praxis und soziale Milieus zu fördern, in denen sich eigenständige und kritische Strukturen »von unten« entfalten können. Das bedeutet, Bedingungen herzustellen, in denen Menschen aufeinander zugehen.“

Deshalb müssen alle Massnahmen durchgesetzt werden, die für Gleichheit und soziale Sicherheit sorgen. Hier zählt er höhere Spitzensteuersätze, eine Bürgerversicherung, Erhöhung des kommunalen und genossenschaftlichen Wohnbestands, Mietobergrenzen und anderes auf.

Die Rückkehr demokratischer Planungsdebatten

Hier geht es Zelik nicht um Co-Management, sondern darum, ökonomische Prozesse gesellschaftlich zu gestalten. Hierzu zählt er Verstaatlichungen, etwa im Bankensektor. eine andere Besetzung der Gremien, die Regierung und Parlament beraten, sowie eine Stärkung des öffentlichen Sektors im Medienbereich und öffentliche Finanzierung von Zeitungen und sonstigen Medien.

Feministische Gesetze

Hier steht an erster Stelle, ein Gesetz gegen ungleiche Bezahlung durchzusetzen. Aber auch die Beseitigung von Anreizen, die eine geschlechterspezifische Arbeitsteilung begünstigen, die Förderung von Programmen gegen männliche Gewalt, den Ausbau von Frauenhäusern, eine gesetzliche Quotierung von Wahllisten usw.

Internationalisierung der Sozialpolitik, Recht auf Migration

Ein weiteres wichtiges Feld der Auseinandersetzung ist die Migrationspolitik. „In einer nationalstaatlich verfassten Welt gibt es für die Veränderung transnationaler sozialer Beziehungen besonders wenig Ansatzpunkte. Das ist auch der Grund, warum dem Recht auf Migration eine so zentrale Rolle zukommt. Migration und die Kämpfe um Aufenthaltsrecht und Staatsbürgerschaft sind Ausdruck des Widerspruchs zwischen globalen ökonomischen Strukturen und der nationalen politischen Form. Migration ist eine subalterne Taktik der sozialen Teilhabe, die die nationale Form unterläuft. Ein linker Green New Deal muss deshalb darauf abzielen, Grenzen für Menschen zu öffnen, und gleichzeitig die Spielräume für das Kapital beschneiden, sich den nationalstaatlichen Beschränkungen zu entziehen.

Weitere Ansatzpunkte sind verpflichtende zwischenstaatliche Abkommen, denen eine nationalstaatliche Umsetzung folgt. Als Beispiel nennt Zelik das Lieferkettengesetz. oder Klimagerechtigkeitszahlungen an betroffene Bevölkerungsgruppen

Dekarbonisierung

Die Dekarbonisierung stellt für Zelik die dringendste Klimaschutzmassnahme dar.

„Zum schnellen Kohleausstieg gibt es, gerade auch aus Perspektive der unteren Klassen, keine Alternative, doch sozialökologische Transformation würde bedeuten, die Verteidigung sozialer Rechte und die »Nachhaltigkeitsrevolution« so miteinander zu verschränken, dass die Strukturveränderungen solidarisch von der gesamten Gesellschaft (und nicht nur von Beschäftigten) getragen werden. Ein linker Green New Deal muss darauf hinarbeiten, dass Umweltbewegungen Arbeitskämpfe als Bestandteil gesellschaftlicher Veränderung begreifen und sich Gewerkschaften aus der sozialpartnerschaftlichen Umklammerung befreien, die sie an die Unternehmenslogik kettet.“

Widersetzen sollte sich ein linker Green New Deal hingegen den Konsumentenappellen der Klimadebatte, die viel weniger Wirkung entfalten als eine politische Regulierung der Produktion. Allein das Unternehmen HeidelbergCement produzierte 2018 mit 82 Millionen Tonnen CO2  fast genauso viel Treibhausgas-Emissionen wie alle deutschen Haushalte zusammen.  Vorgaben, die dort ansetzen, wo Emissionen verursacht werden, würden uns selbstverständlich alle betreffen, weil es dann bestimmte Formen des Konsums nicht mehr gäbe, doch sie würden für alle gelten und müssten gemeinsam umgesetzt werden.

Wie gelingt eigentlich sozialer Fortschritt?

Eine linke Regierung hat es mit mindestens fünf grossen Widerständen zu tun.

Erstens können Vermögenseigentümer*innen effizient dafür sorgen, dass die eigenen Anliegen als gesamtgesellschaftliche Interessen erscheinen, indem sie über Medien und Einflussnahme auf Universitäten die öffentliche Diskussion beeinflussen.

Zweitens sind Linksregierungen mit Widerstand aus dem Staats- und Justizapparat konfrontiert, da diese Institutionen über Jahre hinweg konservativ geprägt sind.

Drittens sind Gesetze und internationale Abkommen tendenziell darauf ausgelegt, die bisherigen Strukturen zu erhalten.

Viertens gibt es informelle Netzwerke, über die sich die herrschenden Kreise schnell und effektiv abstimmen können.

Fünftens stellt die Verfügung über die Produktionsmittel selbst eine enorme Macht dar.

Zusammenfassen kann man sagen, dass an der Regierung zu sein, nicht heisst, an der Macht zu sein.

Wie lässt sich unter diesem Umständen dennoch eine soziale Emanzipation umsetzen? Zelik führt hier drei Beispiele an. Diese sind die Einführung der Sozialversicherungen unter Bismarck, die Durchsetzung der „sozialen Marktwirtschaft“ und die gesellschaftliche Liberalisierung im Gefolge der 68er Bewegung.

Allen drei ist nach Zelik gemeinsam, dass sie Ergebnis von gesellschaftlichen, ausserparlamentarischen Kämpfen waren, die von der herrschenden Klasse als potenziell systemstürzend betrachtet wurden, weshalb diese zu Zugeständnissen bereit waren.

Sozialistische Revolutionen: Russland, China, Jugoslawien

In einem weiteren Kapitel stellt sich Zelik die Frage, warum die drei sozialistischen Modelle, Russland, China und Jugoslawien (seiner Auffassung nach) jeweils gescheitert sind. Dazu gibt es sicher ausführlichere Literatur, aber interessant sind Zeliks und Beschreibungen und Analysen schon, auch wenn ich nicht in allem seine Einschätzungen teile.

Zusammenfassend kommt er zu dem Schluss: „Vor dem Hintergrund, dass sich die sozialistischen Modelle stark voneinander unterschieden, ist es nicht so einfach, gemeinsame Ursachen der Krise zu bestimmen. Dennoch kann man wohl drei grundlegende Probleme des Sozialismus als Staatsmacht erkennen. Erstens–und dies ist der offensichtlichste Einwand–beruhten alle sozialistischen Staaten auf einem Modell extrem autoritärer und personalisierter Führung, wie es vom Leninismus propagiert und danach von linken Bewegungen in der ganzen Welt kopiert wurde. … Zweitens brachten die sozialistischen Ländern keinen dem Markt überlegenen Vergesellschaftungsmechanismus hervor. ….Drittens schließlich gelang es den sozialistischen Ländern nicht, eigenständige Kriterien der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu definieren und politische Mehrheiten dafür zu gewinnen.“

Ein neuer Sozialismusbegriff

Auch wenn Zelik die bisherigen Modelle für gescheitert erklärt, hält er am Begriff des Sozialismus fest. Diesmal soll es ein „neuer, grüner, aus der Gesellschaft heraus entwickelter demokratisch-egalitärer Sozialismus“ sein.

Im Zentrum seiner Überlegungen steht, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu reguliert werden muss. Im Mittelpunkt steht die Beschränkung des Stoffwechsels, da ohne diese das Ökosystem kollabiert und der Menschheit die Lebensgrundlagen entzogen werden. Die Wachstumsdynamik des Kapitalismus, über zwei Jahrhunderte zuverlässiger Treiber der Wohlstandsentwicklung entfaltet immer mehr negative Kräfte. Die Energie- und Stofftransformation, als Grundlage jeder Wertschöpfung, stellt auch für ihn eine materielle Schranke dar, die nicht überwunden werden kann.

An dieser Stelle werden vermutlich viele einwenden, dass Linke in der Vergangenheit schon öfter einen unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus prognostiziert haben. Doch man darf sich die heraufziehende Krise nicht als biblisches Harmagedon vorstellen, nach dem schlagartig alles vorüber ist. Weder ist der Klimawandel eine Wand, auf die wir als Menschen zusteuern, noch wird eine plötzliche Flutwelle sämtliche Metropolen hinwegspülen. Zu befürchten ist vielmehr, dass die ökologischen Veränderungen schleichende soziale Krisen in Gang setzen und damit jene Tendenzen weiter verschärfen, die heute schon überall in der Welt zu beobachten sind: Ausbreitung des Rassismus, das Erstarken rechtsextremer Bewegungen, die eine nationalstaatliche Abkopplung von der globalen Krise verheißen, militärische Konkurrenz, Kriege.“

Daraus schliesst Zelik, „Ausgangspunkt eines grünen Sozialismus muss also die Erkenntnis sein, dass gesellschaftliche und Naturverhältnisse materiell miteinander verschränkt sind.“

Zelik sieht hier durchaus Schnittstellen zu den Grünen oder allgemein zur wachstumskritischen Bewegung. Allerdings konstatiert er: „Hinsichtlich der normativen Ziele besteht zwischen den verschiedenen Ansätzen durchaus Grundkonsens. Große Differenzen gibt es jedoch bei der Frage, wie ein Systemwechsel durchgesetzt werden könnte. Dahinter verbergen sich unterschiedliche Bewertungen, ob die Wachstumsgesellschaft eher als das Produkt eines Entwicklungsparadigmas (also von Diskursen und Dispositiven), des Industrialismus (eines zivilisatorischen Projekts und seiner technologischen Verfahren) oder als Konsequenz kapitalistischer Eigentums-und Klassenverhältnisse zu betrachten ist.“

„Eine ökosozialistische Position geht also davon aus, dass sich die Naturzerstörung weder durch Bewusstseinsänderung und kollektive Bescheidenheit noch durch neue technische Verfahren (erneuerbare Energien, Recycling etc.) stoppen lassen wird; auch eine neue Eigentumsordnung und eine gesellschaftliche Kontrolle über Produktion und Konsum werden nicht ausreichend sein. Erst ein politisches Projekt, das alle drei Komponenten dieser »Kongruenz« im Blick hat, wird der destruktiven Dynamik des kapitalistischen Weltsystems etwas entgegensetzen können.“

Was also wäre ein »grüner Sozialismus«?
Erstens muss die Linke begreifen, dass Gemeineigentum und die Stärkung gesellschaftlicher Interessen noch nichts mit ökologischer Nachhaltigkeit zu tun haben….

Deshalb geht es zweitens um einen radikalen Paradigmenwechsel des ökonomischen Denkens. ….
Drittens steht der Begriff »grüner Sozialismus« für einen neuen, erweiterten Materialismus, der das Naturverhältnis und den Stoffwechsel in alle gesellschaftlichen Analysen einbaut. …
Daraus folgt viertens, dass eine ökosozialistische Linke in der Gesellschaft um neue und andere Vorstellungen eines guten Lebens ringen muss.…. 
Fünftens schließlich ergibt sich die Verbindung von ökologischer Transformation und sozialistischer Politik aber auch einfach deshalb, weil kollektive Strukturen fast immer ressourcensparender sind als Individualsysteme…..
Ein grüner Sozialismus muss daher die Regionalisierung und Dezentralisierung von Infrastrukturen und Wirtschaftskreisläufen vorantreiben.

Plan-Markt-was?

Nach Zelik ist die Frage Plan- oder Markt, über die in der Vergangenheit (und auch heute in der Einschätzung von China) gestritten wurde, nicht entscheidend. Beide Systeme haben Vorzüge und Schwächen.

„Was lässt sich daraus folgern? Die Antwort muss wohl lauten, dass es für das Problem keine allgemeingültige Lösung gibt. Die Stärke des Marktmechanismus ist seine größte Schwäche: gedanken-und bindungslose Kooperation. Andererseits stimmt es allerdings ebenfalls, dass wir »hoffnungslos überfordert wären, (wenn wir) jede alltägliche Konsumentscheidung als politischen Wahlakt artikulieren« müssten. Auch gemeinsame und demokratische Planung kann zum Albtraum werden. Ein Alternative zum Kapitalismus muss deshalb wahrscheinlich bescheidener ausfallen und sich mit der Definition begnügen, die Karl Polanyi vorgeschlagen hat: »Sozialismus ist dem Wesen nach die einer industriellen Zivilisation innewohnende Tendenz, über den selbstregulierenden Markt hinauszugehen, indem man ihn bewußt einer demokratischen Gesellschaft unterordnet.«“

Oder anders ausgedrückt: „»Sozialismus« sollte nicht mehr als Modell einer bestimmten ökonomischen Regulierung durch den Staat und schon gar nicht als Synonym für »Planung«, sondern als demokratisch-egalitäre Aneignungsbewegung verstanden werden, bei der auf ganz unterschiedliche Instrumente zurückgegriffen werden kann. Oder wie schon 1845 einmal formuliert wurde: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.« In diesem Sinne würde ich (Zelik) Sozialismus als eine Bewegung zur Dekommodifizierung des Lebens definieren, die folgende, bereits bestehende sozioökonomische Praktiken miteinander verbindet.“

„Ermächtigung in sozialen Kämpfen

„Wenn es stimmt, dass es linker Politik um die Überwindung von Unterdrückungs-und Herrschaftsverhältnissen geht, muss immer die Fähigkeit von Subalternen im Mittelpunkt stehen, sich mit anderen zusammenzutun, um eigene Forderungen zu formulieren und sich Gehör zu verschaffen. Weil Lohnarbeit nach wie vor einen zentralen Teil unseres Lebens ausmacht, bleibt das Projekt der Selbstermächtigung eng verknüpft mit gewerkschaftlichen Kämpfen.“

Wirtschaftsdemokratie

„Wirtschaftsdemokratie ist für ein erneuertes Sozialismuskonzept von zentraler Bedeutung, weil es die Frage aufwirft, wie eine Gesellschaft die Kontrolle über ökonomische Prozesse erlangt. Da sich gezeigt hat, dass Verstaatlichung und Planwirtschaft hierfür unzureichende Bedingungen sind, gibt es zur Demokratisierung bestehender Verhältnisse keine Alternative.“

Commoning

„Von linken Parteien fast unbemerkt haben Feminist* innen, Aktivist* innen der Freie-Software-Bewegung, internationale Bauernorganisationen, Umweltgruppen und Indigene Anfang des neuen Jahrhunderts einen bemerkenswerten Schnittpunkt politischer Praxis entwickelt: die sogenannten »Commons« (Allmende). Als Allmende werden traditionelle Gemeingüter wie Weideland, Wälder oder Fischbestände, aber auch digitale Plattformen und Güter wie Wikipedia oder das Betriebssystem Linux bezeichnet, die niemandem gehören, aber von Gemeinschaften gemeinsam genutzt, gepflegt oder sogar produziert werden.“

Caring 

„Ein Sozialismusbegriff auf der Höhe der Zeit könnte die Fokussierung auf die Lohnarbeit überwinden, indem caring als zentraler Bestandteil eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs verstanden wird. Damit gemeint ist nicht nur die Sorge von Pflegetätigkeiten, sondern auch das normative Prinzip der »Care-Ethik«, die die Sorge um soziale Beziehungen und Natur zum Ausgangspunkt des ökonomischen Denkens macht.“

Solidarische Ökonomie

„Die fünfte Säule einer sozialistischen Aneignungsbewegung muss die Stärkung von Genossenschaften und anderen Organisationen sein, in denen sich Menschen zusammenschließen, um soziale und ökonomische Bedürfnisse demokratisch, solidarisch und egalitär zu befriedigen.“

Infrastruktursozialismus

„Die globale Gesundheitskrise im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie beweist allerdings ebenfalls sehr deutlich, dass gesellschaftliche Praktiken und Bewegungen nicht ausreichend sind, um gute Lebensbedingungen für alle zu garantieren. Nichts ist deshalb so bedeutend wie der Kampf um den Ausbau öffentlicher Güter. Nicht nur Gesundheit, sondern auch Bildung, Nahverkehr, Kinderversorgung, Altenpflege, Wohnen, Kommunikationsnetze, Wasser-und Elektrizitätsversorgung sind öffentliche Aufgaben. Dass Gemeineigentum hier plausibler erscheint als in anderen Zusammenhängen, hat nicht zuletzt mit den Eigenschaften dieser Güter und Dienste zu tun.“

„Vor diesem Hintergrund ist »Infrastruktursozialismus« die sechste und wohl wichtigste ökonomische Säule eines antikapitalistischen Projekts. Die zentrale Schlussfolgerung aus dem 20. Jahrhundert lautet dabei, dass das Gemeineigentum an materiellen und sozialen Infrastrukturen unterschiedliche Formen annehmen muss, um eine Machtkonzentration im Staat zu vermeiden. Es gibt zahlreiche, längst bekannte Möglichkeiten, wie öffentliches und Gemeineigentum über den Staatsbesitz hinausgehen kann–von den Energiegenossenschaften in Bürgerhand, über kommunale Betriebe bis hin zu den öffentlich-rechtlichen Anstalten, wie wir sie bei Krankenkassen, Rundfunk oder Universitäten kennen. Damit wir nicht wieder in die Falle der Staatsapparate tappen, müssen wir plurale »Ökosysteme« von Gemeineigentumsformen schaffen.“

Macht, Gewalt, Hegemonie

Zelik stellt sich die Frage, wie kommt man nun zu den gewünschten Ergebnissen?

„Die ganze gesellschaftstransformatorische Debatte muss dementsprechend um die Frage kreisen, unter welchen Voraussetzungen wir unserem Wunsch nach materieller Sicherheit als Individuen und einem erfüllenden Leben mit den anderen am besten nachkommen können. Vielleicht geht es, wie Bertolt Brecht meinte, bei der großen linken Utopie also doch einfach nur um das »Mittlere«. Um das Allernächstliegende und Vernünftige. Nämlich um einen sozialen Rahmen, der uns die Angst vor sozialem Abstieg nimmt, zum Teilen ermutigt, einfühlendes Verhalten belohnt und die Zusammenarbeit erleichtert. Nicht viel mehr, als man Kindergartenkindern in einer guten Vorschule zu vermitteln versucht.“

Dazu stellt er drei Ansätze vor.

Ein neuer Begriff von Antikapitalismus

Auf dem Weltsozialforum 2010 in Porto Alegre schlug David Harvey eine neue Definition von Antikapitalismus vor.

„Harvey plädierte dafür, sich den postkapitalistischen Übergang ähnlich vorzustellen wie die Transition vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft: Der Kapitalismus sei nirgendwo »eingeführt« worden, sondern habe sich durchgesetzt, weil sich verschiedene Entwicklungen überlagerten und gegenseitig verstärkten: Gesellschaftsveränderungen entstehen aus der dialektischen Entfaltung der Beziehungen zwischen sieben Momenten, die zum politischen Körper des Kapitalismus als einem Ensemble oder einer Ansammlung von Tätigkeiten und Praktiken gehören:
a) technologische und organisatorische Formen der Produktion des Austauschs und der Konsumtion,
b) Beziehungen zur Natur,
c) gesellschaftliche Beziehungen zwischen den Menschen,
d) geistige Vorstellungen von der Welt, einschließlich Kenntnissen und kulturellen oder religiösen Auffassungen,
e) Arbeitsprozesse und die Produktion bestimmter Güter, Geografien, Dienstleistungen oder Affekte,
f) institutionelle, rechtliche und staatliche Arrangements,
g) die alltägliche Lebensführung, auf der die gesellschaftliche Reproduktion beruht.“

„Die Überwindung des Kapitalismus, so Harvey, müsse analog hierzu gedacht werden: Als eine Verbindung ökonomischer, politischer, sozialer, kultureller und philosophischer Prozesse, die sich gegenseitig verstärken. Harvey setzt dabei nicht auf sozialdemokratische »Evolution«, denn er betont zugleich, dass jede Einzelbewegung, die wir als emanzipatorisch bezeichnen würden–zum Beispiel ein anderes Naturverhältnis, die Ausbreitung der Solidarökonomie, progressive Sozialgesetzgebung–, den Kapitalismus auch einfach erweitern und modernisieren kann.

Sein Anliegen besteht in erster Linie darin, dass man sich das Ende des Kapitalismus nicht als Ereignis, sondern als Prozess vorzustellen hat, der der Kommodifizierung des Lebens auf vielen Ebenen gleichzeitig entgegenwirkt und dessen Ausgang offen ist.

Harveys Antikapitalismus unterscheidet sich deutlich von den sozialistischen Strategien des 20. Jahrhunderts. Für ihn ist klar, dass auf ganz unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig Alternativen zum Kapitalismus entwickelt werden müssen, keiner der sieben genannten Momente als zentral gelten kann und diese Veränderungen längst nicht nur von Linken getragen werden.

Und doch geht es um eine politische Strategie, denn die auf verschiedenen Feldern stattfindenden emanzipatorischen Prozesse müssen miteinander in Verbindung gesetzt, gegen Angriffe verteidigt und reflektiert werden.“

Die Drei Linien von Erik Olin Wright

Wright beobachtet, dass gesellschaftlich erkämpfte Fortschritte in Form einer Pendelbewegung ablaufen,

„Das änderte sich erst, als im 19. Jahrhundert eine politische Bewegung mit einer Strategie, einem politischen Projekt und einer großen Erzählung zur Überwindung der Herrschaftsverhältnisse auf die Bühne trat. Mit welchen strategischen Mitteln könnte eine solche Bewegung heute agieren? Erik Olin Wright, der 2019 verstorbene, ehemalige Präsident des US-Soziologenverbandes, arbeitete über viele Jahrzehnte am sogenannten Real Utopias Project, mit dem er Transformationswissen zu sammeln und zu systematisieren versuchte. Interessant an Wrights Ansatz ist, dass er die Strategien der vergangenen 150 Jahre noch einmal kritisch resümierte und dabei zwischen drei Linien unterschied: dem »Bruch« (ruptural transformation), der »Symbiose« (symbiotic transformation) und dem »Freiraum« (interstitial transformation).“

„Das zentrale Problem der ruptural transformation habe darin bestanden, so Wright, dass Brüche tiefe gesellschaftliche Krisen und eine Verschlechterung der materiellen Lage nach sich ziehen, was wiederum die Legitimation des Projekts unterminiert und die Revolutionär* innen dazu zwingt, die Macht autoritär zu verteidigen. Auf diese Weise mündeten die revolutionären Projekte in Diktaturen.

Die »symbiotische« Strategie hingegen, die ohne traumatischen Bruch auszukommen versucht und dafür eine Art Koexistenz mit den bestehenden Machtverhältnissen eingeht (Wright zieht den fordistischen Klassenkompromiss als Beispiel heran), habe im 20. Jahrhundert zwar wichtige Verbesserungen ermöglicht, gleichzeitig aber zum Entstehen neuer »robuster Formen von Kapitalismus« beigetragen und damit weiter reichende Veränderungen blockiert. Das lag auch daran, dass die Träger* innen dieser Strategie ihre gesellschaftskritische Haltung nach der Einbindung in die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen aufgaben und sich eher mit dem erzielten Kompromiss als mit dem Emanzipationsprojekt zu identifizieren begannen.

Die »Freiraum«-Strategie schließlich, die gewissermaßen auf die Entwicklung von antikapitalistischen Inseln setzte, sei historisch daran gescheitert, dass sie die grundlegenden Zwangsverhältnisse nicht berührte und deshalb entweder marginal blieb oder sich (wie die meisten Genossenschaften) doch wieder an ihre kapitalistische Umgebung anpassen musste. »Freiraumstrategien können erweiterte Räume für nichtkommodifizierte, nichtkapitalistische Wirtschaftsbeziehungen schaffen«, schreibt Wright, doch es sei ist nicht zu erkennen, dass sie die Macht des Kapitals weit genug aushöhlen, um die auferlegten Schranken zu überwinden.“

Die Hegemonie von Gramsci

„Noch sehr viel deutlicher in der Frage, wie eine Durchsetzungsstrategie jenseits des »Entweder-oder« aussehen könnte, sind die Überlegungen, die Antonio Gramsci während seiner Haftzeit im faschistischen Italien 1926 bis 1934 notierte. Vermutlich wird kein anderer politischer Denker heute so intensiv, von links wie von rechts, rezipiert wie Gramsci.

Im Zentrum seines politischen Denkens stand das Konzept der »Hegemonie«, also die Fähigkeit zu »intellektueller und moralischer Führung« einer bestimmten Klasse oder Gruppe.[ 340] Gramsci stellte nicht infrage, dass sich auch bürgerlich-demokratische Gesellschaften auf Zwang, Gewalt und Eigentumsmacht stützen und es in ihnen dementsprechend kein freies, gleichberechtigtes Ringen der Meinungen gibt.

Doch stabil werden Herrschaftsverhältnisse seiner Ansicht nach erst dann, wenn eine führende Gruppe die Bevölkerungsmehrheit davon zu überzeugen vermag, dass die Ordnung im allgemeinen Interesse, also auch dem der Subalternen ist.

Hergestellt wird diese Hegemonie durch eine Vielzahl von Mechanismen und Apparaten: Schule, Medien und die Kirche gehören für Gramsci ebenso dazu wie Literatur oder Musik, die bestimmte Überzeugungen popularisieren, politische Bündnisse, die eine Vormachtstellung markieren, und eine Alltagspraxis, die »moralische« Haltungen sichtbar macht.“

Der Ansatz von Nico Poulantzas

Poulantzas entwickelte in den siebziger Jahren einen Staatsbegriff, der sich von den traditionellen Vorstellungen der Linken deutlich unterschied.

Auf der einen Seite widersprach Poulantzas der Idee, dass es sich beim Staat–wie von Liberalen und Sozialdemokrat* innen vertreten–um eine neutrale, normativ organisierte Einrichtung handelt, die von einer Regierung transformatorisch genutzt werden kann.

Auf der anderen hielt er aber auch die von Kommunist* innen und Anarchist* innen vertretene Position für falsch, der Staat diene »als Klassenstaat« nur den Vermögenseigentümer* innen.

Poulantzas schlug stattdessen vor, den Staat als eine »Verdichtung« von Kräfteverhältnissen zu betrachten, wobei Gesetze, Verwaltungsprozeduren und Gewaltapparate zwar die Funktion haben, die bestehende Eigentums-und Machtordnung zu sichern, Widerstände und Protest aber immer auch eingebunden werden muss, um die Legitimation der Herrschaft zu erweitern…..

Der Staat organisiert einen sozialen und ökonomischen Kompromiss, der die ungleichen Macht-und Eigentumsverhältnisse bekräftigt, und ist damit sowohl Akteur als auch Feld der Auseinandersetzung.“

Daraus schliesst Zelik: „Meine These (Zelik) wäre nun, dass Transformationsmacht vor allem dann entsteht, wenn sich diese beiden Ansätze–eine Demokratisierung des Staates im Sinne Poulantzas und ein außerinstitutioneller »radikaler« Reformismus aus der Gesellschaft, wie Hirsch ihn propagiert–ergänzen.“

„Diese Verbindung von staatlicher und außerinstitutioneller Politik wird häufig mit den Begriffen »Partei« und »Bewegung« gelabelt, doch das verstellt den Blick darauf, worum es eigentlich geht.

Die Kraft einer emanzipatorischen Gegenbewegung beruht nicht darauf, wie oft demonstriert und protestiert wird (was gewöhnlich als sichtbarer Ausdruck von Bewegungen gilt), sondern ist das Ensemble gesellschaftlicher Praktiken und Organisationsformen, die sich der Inwertsetzung (Kommodifizierung) entziehen: soziale und kulturelle Orte, kritische Öffentlichkeiten, solidarisches Alltagsverhalten, kollektive Überzeugungen, Arbeitskämpfe und vieles andere mehr.

Parteien, die nicht ausschließlich parlamentarisch arbeiten, sind Bestandteil dieser außerinstitutionellen Macht. Deswegen geht es nicht um »Partei versus Bewegung«, sondern um den Aufbau eines vielfältigen politischen Projekts, das sich den Zielen Solidarität, Gleichheit und Demokratie verschrieben hat und die Forderungen der gesellschaftlichen Bewegung in die Staatsapparate hinein verlängert.“

Fazit

Das Buch liest sich stellenweise wie eine Gebrauchsanleitung, wobei das hier durchaus positiv gemeint ist. Es ist sehr gut strukturiert und dadurch relativ leicht zu lesen. Hinzu kommt, dass es keinen Nachteil darstellt, dass Zelik Schriftsteller und nicht Sachbuchautor ist. Interessant sind auch die Literaturverweise, die einen eigenen Kosmos eröffnen.

Zelik argumentiert zurückhaltend, aber überzeugend und auch wenn man nicht seinen Ansichten folgt, ist die Lektüre ein Erkenntnisgewinn.

Raul Zelik ist Mitglied des Parteivorstands der Partei Die Linke, Schriftsteller, Übersetzer und betreibt auch einen interessanten Blog.