Puntos de reflexión

Puntos de reflexión

Die Progressiven haben ihren Weg verloren. Wir haben vergessen, wie man eine progressive Vision formuliert. Die Begriffe der politischen Debatte sind uns entglitten, und wir haben sogar die Sprache der fortschrittlichen Ideale – wie das Wort „Freiheit“ – an die extreme Rechte abgetreten, um sie neu zu definieren. Die radikale Rechte kennt ihre Werte und ihr politisches Programm gut. Sie hat ihre Ideen und ihre Sprache durchgesetzt. Sie hat die Debatte dominiert und dadurch die Macht an sich gerissen.“ Wie das passiert ist und wie man das wieder ändern kann, dies ist das Thema in Puntos de reflexión (im Original Thinking Points: Communicating Our American Values and Vision) von George Lakoff.

Für Lakoff liegt ein Schlüssel dafür in der effektiven Kommunikation, im Gebrauch von Worten und Sprache im Dienste der tiefsten Überzeugungen. Dahinter steht das Konzept des Framing, ein Konzept, das in Deutschland durch Elisabeth Wehling mit ihrem Buch Politisches Framing bekannt wurde.

Worum geht es in der Politik?

Lakoff schreibt dazu:
In der Politik geht es um Werte; es geht um Kommunikation und um das Vertrauen der Wähler in die Ehrlichkeit des Kandidaten; es geht darum, sich mit der Weltanschauung des Kandidaten zu identifizieren. Es geht letztlich um Symbolik. Die spezifischen Fragen sind zweitrangig; nicht irrelevant, nicht unwichtig, aber zweitrangig. Die Position eines Politikers zu einem bestimmten Thema sollte seine Werte widerspiegeln, und die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen und Politiken sollten diese Werte symbolisieren“.

Und worum geht es in Puntos de reflexión ?

„In diesem Buch wird nicht erklärt, wie man Wahlen gewinnt oder verliert. Es erklärt, wie man die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnt oder verliert. Dies kann nur geschehen, wenn die Menschen entdecken, wer sie in ihrem Herzen wirklich sind. In diesem Buch geht es um Werte und wie man sie vermittelt. Es geht um die fortschrittliche Vision, ihre Kernprinzipien und moralischen Werte und darum, wie diese überzeugend artikuliert und argumentiert werden können.“

Fehler in der politischen Kommunikation

Zunächst beschreibt Lakoff einige Fallen, die man vermeiden sollte.

  1. Die spezifische Problemfalle.
    Es ist eine Binsenweisheit: Nicht alle Progressiven haben die gleichen Ideen. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen und Bedenken. In Wirklichkeit jedoch sind sich die Progressiven einig. Wir stimmen in den Werten überein: Es gibt also eine echte Grundlage für die Einheit der Progressiven. Progressive Werte gelten für viele Themen. Das Gleiche gilt für Grundsätze und Argumentationsweisen. Konservative kommunizieren Konservatismus, egal welches Thema angesprochen wird. Die Progressiven müssen den Progressivismus vermitteln. Wir müssen die Zersplitterung, mit der wir verschiedene politische Themen behandeln, beenden und die zentrale Bedeutung von Werten und Grundsätzen zurückgewinnen, um zu einer fortschrittlichen Gesamtvision zurückzufinden.
  2. Die Umfrage-Falle
    Viele Progressive folgen sklavisch den Umfragen. Die Aufgabe von Leadern ist es, zu führen, nicht zu folgen. Außerdem sind Umfragen – entgegen der landläufigen Meinung – an sich keine genauen empirischen Beweise. Umfragen sind nur so genau wie die Formulierung ihrer Fragen, und die ist oft unzureichend. Echte Führungspersönlichkeiten nutzen Umfragen nicht, um herauszufinden, welche Positionen man einnehmen sollte; sie führen Menschen zu neuen Positionen.
  3. Die Vorschlagsliste-Falle
    Progressive denken oft, dass die Menschen auf der Grundlage von Wahlprogrammen und spezifischen politischen Vorschlägen der Kandidat*innen wählen. Die Wahrheit ist, dass die Menschen auf der Grundlage von Werten, der Fähigkeit, etwas zu leisten, Authentizität, Vertrauen und Identität wählen.
  4. Die Falle des Rationalismus
    Es gibt die falsche, aber weit verbreitete Theorie, dass die Vernunft voll bewusst, verbalisiert (sie spiegelt buchstäblich die objektive Welt wider), logisch, universell und frei von Emotionen ist. Die Kognitionswissenschaft hat gezeigt, dass jedes dieser Extreme falsch ist. Die Progressiven tappen jedoch in diese Falle: Sie glauben, dass Fakten allein die Wähler überzeugen, da die Wähler „rational“ sind und ihre Wahlentscheidung auf der Grundlage von Vorschlägen und ihren eigenen Interessen treffen.
  5. Die Falle „keine Notwendigkeit für Framing“
    Die Progressiven argumentieren oft, dass „die Wahrheit keines Framings bedarf“ und dass „die Fakten für sich selbst sprechen“. Menschen verwenden Frames, das heißt tief verwurzelte mentale Strukturen, die unser Verständnis der Welt prägen, um die Fakten zu verstehen. Frames sind in unseren Gehirnen und bestimmen unseren gesunden Menschenverstand. Es ist unmöglich zu denken oder zu kommunizieren, ohne diese Rahmen zu aktivieren. Daher die Bedeutung des Framings, der Aktivierung des einen oder anderen Frames. Wahrheiten müssen eingerahmt werden, damit sie als Wahrheiten wahrgenommen werden. Fakten brauchen einen Kontext.
  6. Die „Politik sind Werte“-Falle
    Progressive setzen Politik oft mit Werten gleich, d. h. mit ethischen Konzepten wie Empathie, Verantwortung, Gerechtigkeit, Freiheit usw. Politiken sind nicht per se Werte, auch wenn sie auf ihnen beruhen oder beruhen sollten. So sind beispielsweise die soziale Sicherheit und die allgemeine Krankenversicherung keine Werte, sondern politische Maßnahmen, die die Werte der Menschenwürde, des Gemeinwohls, der Gerechtigkeit und der Gleichheit widerspiegeln und verwirklichen.
  7. Die Falle der Zentristen
    Es besteht die weit verbreitete Meinung, dass es eine ideologische „Mitte“ gibt, d. h. eine Mehrheitsgruppe von Wählern, die entweder eine zentristische Ideologie vertreten oder zwischen rechts und links stehen oder die gleichen Ansichten haben. In Wirklichkeit besteht die so genannte Mitte aus bikonzeptuellen Menschen, d. h. aus Menschen, die in einigen Aspekten des Lebens konservativ und in anderen progressiv sind. Wähler, die sich selbst als „konservativ“ bezeichnen, haben in wichtigen Fragen des Lebens oft progressive Werte. Wir müssen uns an diese bikonzeptuellen „Teilprogressiven“ wenden, indem wir an ihre manchmal starken progressiven Identitäten appellieren. Viele Progressive glauben, dass sie „nach rechts schwenken“ müssen, um mehr Stimmen zu bekommen. In Wirklichkeit ist dies ein Fehler. Indem sie nach rechts rücken, verstärken die Progressiven rechte Werte und geben ihre eigenen auf; außerdem entfremden sie ihre Basis.
  8. Die Verachtungsfalle.
    Zu viele Progressive glauben, dass Menschen, die konservativ wählen, einfach nur dumm sind, insbesondere wenn sie gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen stimmen. Die Progressiven glauben, dass es ausreicht, den Menschen zu erklären, wie ihre tatsächliche wirtschaftliche Situation aussieht, damit sie ihre Stimme ändern. In Wirklichkeit haben diejenigen, die konservativ wählen, ihre Gründe, und sie sollten sie verstehen. Der konservative Populismus ist kultureller Natur, nicht wirtschaftlicher. Konservative Populisten, die sich als einfache Menschen mit moralischem Verstand und vernünftigen Ideen sehen, fühlen sich von den liberalen Eliten, die sie unterdrücken, verachtet. Sie haben das Gefühl, dass die Progressiven versuchen, ihnen eine unmoralische „politische Korrektheit“ aufzuzwingen, und das ärgert sie. Da die Progressiven das politische Handeln der Konservativen nicht verstehen, bezeichnen sie die konservativen Politiker als inkompetent und lustlos. Dies liegt daran, dass sie die konservativen Ziele unter dem Gesichtspunkt der progressiven Werte analysieren. Wenn man die Ziele der Konservativen unter dem Gesichtspunkt der konservativen Werte analysiert, werden sie die Situation verstehen, das heißt, sie werden den Erfolg verstehen, den die Konservativen erzielt haben.
  9. Die Reaktivitätsfalle
    Bei fast allen Themen haben wir den Konservativen das Framing der Debatte überlassen. Die Konservativen ergreifen die politische Initiative und setzen ihre Ideen durch. Wenn Progressive darauf reagieren, greifen wir auf konservative Werte und Framings zurück und schaffen es nicht nur nicht, unserer Botschaft Gehör zu verschaffen, sondern, was noch schlimmer ist, wir verstärken konservative Ideen. Die Progressiven brauchen ein proaktives Bündel von Maßnahmen und Kommunikationstechniken, um unsere eigenen Werte zu unseren Bedingungen zu vermitteln. Wir müssen das Framing der Debatte ändern, nicht die konservativen Framings verstärken. Es reicht aber auch nicht aus, die Frames zu wechseln. Progressive Führungspersönlichkeiten müssen über alle Parteigrenzen hinweg gemeinsam eine landesweite, organisierte, systematische und anhaltende Kampagne durchführen, die den Menschen die progressiven Werte offen vermittelt – Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr – unabhängig davon, welche spezifischen Themen zu einem bestimmten Zeitpunkt diskutiert werden.
  10. Die clevere Slogan-Falle
    Einige Progressive glauben, dass man Wahlen oder die Unterstützung von Wählern mit klugen Sprüchen und einprägsamen Slogans gewinnt, was wir hier das „Oberflächenframing“ nennen. Oberflächliche Frames sind nutzlos ohne die tieferen Frames, das heißt, ohne unsere tief verwurzelten moralischen Überzeugungen und politischen Grundsätze. Frames, ob oberflächlich oder tief, sind, wenn sie ehrlich eingesetzt werden, notwendig, damit die Wahrheit ans Licht kommt und unsere Werte wahrgenommen werden. Im Gegensatz dazu ist die witzige Phrase ein betrügerischer Gebrauch von oberflächlichen sprachlichen Frames, um die Wahrheit zu verbergen. Fortschrittliche Werte und Grundsätze – die tiefgreifenden Frames – müssen vorhanden sein, bevor Slogans irgendeine Wirkung haben können; Slogans allein bringen nichts. Konservative Slogans funktionieren, weil die Konservativen seit Jahrzehnten ihre tiefgreifenden Vorstellungen vermitteln.
  11. Die Fallstricke der Fachsprache
    Die Progressiven verlassen sich zu sehr auf politischen Jargon und Fachsprache, um ihre Vorschläge zu machen. Stattdessen sollten sie sich mit den Sorgen der Wähler befassen, zum Beispiel damit, wie sie ihren Kindern ein Studium ermöglichen oder wie sie Unternehmensgründungen fördern wollen.
  12. Die Falle der Schuldzuweisung.
    Es ist sehr bequem, alle unsere Probleme auf die Medien und die Lügen der Konservativen zu schieben. Zweifellos lügen konservative Politiker oft und verwenden Orwellsche Ausdrücke, um die Wahrheit zu verdrehen, und zweifellos wiederholen die Medien gerne konservative Bilder. Aber wir können nur wenig direkt dagegen tun. Wir können nur direkt kontrollieren, wie wir kommunizieren. Es reicht nicht aus, eine Lüge mit der Wahrheit zu korrigieren, sondern wir müssen die Dinge mit unserer moralischen Vision so gestalten, dass die Wahrheit verstanden wird, und dieser neue Frame muss die politische Debatte neu gestalten. Wenn viele Menschen anfangen, die fortschrittliche Vision ehrlich, effektiv und häufig zum Ausdruck zu bringen, werden die Medien viel eher bereit sein, unsere Vorstellungen zu übernehmen.

Die „Mitte“ gibt es nicht

Im folgenden wendet Lakoff sich der Frage zu, wen die Progressiven eigentlich ansprechen wollen. Zielgruppe müssen die Unentschlossenen sein, ohne die eigene Basis dabei zu verprellen. Sich an eine politische Mitte zu halten, hält Lakoff für falsch, weil es diese politische Mitte seiner Überzeugung nach nicht gibt. Dazu schreibt er:

Zu verstehen, mit wem wir sprechen – und mit wem wir sprechen wollen – ist von entscheidender Bedeutung und muss geschehen, bevor wir damit beginnen können, zu formulieren, was wir zu sagen haben und wie wir es am besten sagen können. Dies muss sowohl für progressive Kandidat*innen als auch für Aktivist*innen und Aktivistengruppen gelten. Dabei stehen wir vor einer doppelten Herausforderung: Wir müssen unsere Basis mobilisieren, ohne darauf zu verzichten, unentschlossene Wähler*innen zu gewinnen, und wir müssen dies tun, ohne zu lügen, zu verzerren, zu täuschen oder vorzugeben, etwas zu sein, was wir nicht sind. Die Versuchung, so zu tun, als ob, rührt von den zahllosen Mythen her, die sich um unentschlossene Wähler*innen und die „Mitte“ ranken. Um es gleich vorweg zu nehmen: Die ideologische oder politische Mitte gibt es nicht. In Wirklichkeit gibt es viele Arten von bikonzeptuellen Menschen.

Stattdessen stellte die These auf, dass Menschen sowohl progressive, als auch konservative Überzeugungen gleichermaßen vertreten können, sie sind bikonzeptionell, wie er das nennt. Ein gutes Beispiel dafür findet man in der Ökologische Bewegung, wo traditionelle Werte wie etwa Naturerhaltung mit progressiven Ansichten in gesellschaftspolitischen Fragen einhergehen.

Rationalität in der politischen Argumentation

Auch den Glauben, dass Wähler*innen rational entscheiden hält er für einen Irrtum. In der fortschrittlichen Welt regiert der Rationalismus. Und das ist einer der Gründe, warum die Progressiven gegenüber den Konservativen an Boden verloren haben.

Statt rationale Argumente, sollten die Progressiven ihre Überzeugungen und Werte in den Vordergrund stellen. Dazu gehört auch dass sie Begriffe zurückerobern, die von den Konservativen besetzt werden. Beispiele dafür sind Patriotismus, Rechtsstaat, Familie oder Freiheit, Konservative haben diese Begriffe mit bestimmten Inhalten gefüllt und es kommt darauf an, dass die Progressiven diese Inhalte umdeuten.

Was ist Freiheit?

Dies lässt sich gut am Begriff der Freiheit deutlich machen. Bei Freiheit denkt man unwillkürlich an persönliche Freiheit, an Meinungsfreiheit, gegenwärtig auch an die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen. Deswegen ist Kube, um ein Beispiel zu nennen, auch kein freier Staat, weil es zum Beispiel eine Meinungsfreiheit (zumindest nach der Aussage bürgerliche Medien) dort nicht gibt. Was aber, wenn Freiheit bedeutet, eine gute Ausbildung machen zu können, ein funktionierendes Gesundheitswesen zu haben, und eine nicht zu hohe Ungleichheit der Menschen untereinander? So definiert zum Beispiel die spanische Linke gegenwärtig den Begriff Freiheit in der Auseinandersetzung mit der Rechten. Wenn man dem folgt, dann ist Kuba mit einem Schlag ein freier Staat.

Die Grundkonzepte von Lakoff

Neben dem Konzept des Framing knüpft George Lakoff in Puntos de reflexión auch an die politische Theorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe an, wie sie in La Razón Populista dargelegt ist. Ein Großteil seiner Argumentation aber beruht auf Erkenntnisen der Linguistik, Er berichtet über neue Experimente in der Kognitionswissenschaft, in der Lakoff zuhause ist und das Rockrigde Institute, ein progressiver Trink Tank, den er leitete. Ein ausführlicher Teil des Buches, der hier nicht explizit besprochen wird, widmet sich der Darstellung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse. Das Buch ist dabei vorwiegend aus amerikanischer Perspektive geschrieben, wird aber auch in Spanien rezipiert.

Kann die Linke etwas daraus lernen?

Die Niederlage die die Partei Die Linke in der Bundestagswahl 2021 erlitten hat, hätte sich sicher nicht allein durch die Beherzigung der Ratschläge von Lakoff verhindern lassen. Einige der Gründe sind in interessanten Beiträgen wie Statt Entweder-Oder: Sowohl-als-Auch, oder Schicksalswahl: Alles muss anders werden, ändern soll sich wenig! aufgeführt. Aber dennoch hätte sicher nicht geschadet, einige der Ratschläge von Lakoff zu berücksichtigen. Wer sich zum Beispiel vergegenwärtigt, wie sich der Begriff Respekt durch den Wahlkampf der SPD gezogen hat und weiter in der Regierungserklärung auftaucht, der kann ahnen, dass die Sozialdemokraten da etwas weiter waren.