In welcher Situation leben wir eigentlich?

Gerade gedacht oder erfahren

Schaut man in der gegenwärtigen Situation Nachrichten, liest Zeitungen oder Blogs im Internet, kann einem das Gefühl der Ratlosigkeit und Hilflosigkeit überkommen, angesichts der Katastrophen, die da herunterprasseln. Viele Gespräche mit Freunden und Freundinnen oder Bekannten münden oft darin, dass man sich angesichts der Hoffnungslosigkeit der Lage lieber ins Private zurückziehen möchte. Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein, und man fragt sich, in welcher Situation leben wir eigentlich?

In welcher Situation leben wir eigentlich?

Unsere Gesellschaft hat sich schleichend verändert, rückt immer weiter nach rechts, Hass und Hetze im Netz, Krieg in der Ukraine, Unwetterkatastrophen, Inflation, die Corona Pandemie kaum vorbei, der Angriff auf Israel und die Folgen….. Das alles lässt sich nur schwer einordnen und kaum hat man sich ein Bild von dem einen gemacht, es bezüglich der Auswirkungen auf sich selbst und auf die gesamte Menschheit eingeordnet, wird man vom nächsten Ereignis überrascht. Dabei kann es leicht passieren, dass man die einzelnen Ereignisse isoliert betrachtet und so die tatsächlichen Ursachen und Auswirkungen nicht erkennen kann. Aber nichts findet isoliert statt, alles ist miteinander verwoben.
Wir befinden uns in einer multiplen Krise, die verschiedene Erscheinungsformen annimmt.Dazu ein kurzer Ausflug in die Theorie.

Eine kurzer Ausflug in die Theorie

Folgt man der marxistischen Argumentation, dann leben wir in eine Gesellschaft, die durch eine „ungeheure Warensammlung“ (Karl Marx im ersten Satz des Kapitals) gekennzeichnet ist. All diese Waren entstehen dadurch, dass der Mensch – vermittelt über die Arbeit – mit der Natur (seiner Umwelt) in Austausch tritt, sie für seine Zwecke verändert und so seine Lebensgrundlagen schafft.

Im Kapitalismus werden diese Waren nicht hergestellt, weil man sie selbst benötigt und nutzen möchte, sondern sie werden zum Verkauf fabriziert. Der Erlös aus diesem Verkauf wird zum großen Teil dazu verwendet, neue Waren zu produzieren (Marxist:innen sprechen hier von Akkumulation des Kapitals).

Die Konkurrenz zwischen den Warenproduzent:innen zwingt diese dazu, ihre Waren jeweils billiger zu verkaufen als die Anderen, und deswegen auch, sie immer billiger herzustellen, um den Profit nicht zu gefährden. Damit verbunden entsteht eine Tendenz, dass das Einzelprodukt immer weniger profitabel wird. Dies wird dadurch ausgeglichen, dass die Menge der Produkte erhöht wird. Dadurch erhöht sich zwar die Masse des Profits, aber das Verhältnis zwischen dem Kapital, das eingesetzt wird und dem Profit, der übrig bleibt, verringert sich (Marxist:innen nennen dieses Verhältnis Profitrate).
Auf der Suche nach höheren Profitraten und Anlagemöglichkeiten für die Masse des Profits werden immer weitere Teile der Gesellschaft der Profitlogik unterworfen, sie werden kommodifiziert, zu Waren umgeformt. Immer mehr Dinge bekommen ein Preisschild und können verkauft werden. Immer mehr Kapital entsteht und sucht Anlagemöglichkeiten. Die Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten weitet sich aus, vom Heimatmarkt hinaus in andere Länder, vom Produktionssektor zum Finanzmarkt, Leistungen und öffentliche Güter, früher vom Staat organisiert, werden privatisiert. Aber das reicht nicht aus. Es entsteht eine Akkumulationskrise.

Akkumulationskrise

In einer solchen Akkumulationkrise, befindet sich das Kapital seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die gesamte Ära des Neoliberalismus – mit Thatcher und Reagan am Anfang – lässt sich als Versuch interpretieren, dieser Akkumulationskrise zu entkommen. Schwächung der Gewerkschaften und der gesamten Arbeiter:innenbewegung um Löhne zu drücken, Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur, um neue Anlagemöglichkeiten für Kapital zu kreieren, Deregulierung, um Kapital flexibler anlegen zu können, alles das passt in dieses Schema, hat zum Teil Erfolg gezeigt, aber war doch nicht genug, um diese Krise endgültig zu überwinden.

Soziale Krise

Die gesellschaftlichen Folgen allerdings waren weitreichend und können wahrgenommen werden, wenn wieder ein Zug ausfällt, weil die Infrastruktur der Bahn kaputt gespart wurde, in den Wartelisten für Operationen, weil Klinikpersonal fehlt, in den Preisen für die Unterbringung in Altenheimen, weil diese privatisiert wurden.

Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich enorm aufgetan, Altersarmut ist ein verbreitetes Phänomen in den westlichen Ländern.

Das neoliberale Menschenbild, dass jeder sich selbst der Nächste ist und in Konkurrenz zur anderen steht, ist tief in unsere Überzeugungen gedrungen und behindert das Entstehen von Solidarität und Empathie. Wir befinden uns in einer sozialen Krise.

Repräsentationskrise und Krise der Demokratie

Die Folgen sind auch im politischen System zu spüren. Die Alltagserfahrungen zeigen, dass die politische Klasse und – nach Ansicht einiger – auch die Demokratie nicht mehr in der Lage ist, die Auswirkungen der Krisen zu bewältigen. Ja, mehr noch, sie schafft es nicht einmal, die Ursachen dafür zu erklären. In einer solchen Situation haben Kräfte, die einfache Lösung anbieten, leichtes Spiel. Die Wähler:innen der AfD in Deutschland oder der Vox in Spanien sind keine Protestwähler:innen, hier manifestieren sich Überzeugungen, die aus jahrelangen Erfahrungen des Abgehängtenseins und der mangelnden Teilnahme resultieren.

Geopolitik

Die Akkumulationkrise führt auch zu verschärften Konflikten auf internationaler Ebene, die sich auf der Oberfläche als Auseinandersetzung um Werte darstellen, in denen es aber im Endeffekt um das Sichern von Märkten und Rohstoffen geht.

Wir stehen in einer neuen Blockkonfrontation, die in unseren Leitmedien als Auseinandersetzung Demokratie vs. Autoritarismus dargestellt wird, in der es im Kern aber um die Sicherung der globalen Vorherrschaft der USA geht, die zunehmend in Frage gestellt wird.
Im Kern stehen sich China und die USA gegenüber, mit Europa in einer problematischen Zwischenposition zwischen subalternem US/NATO-Partner und eigenständigem Akteur. Die Staaten des globalen Südens, – ehemalige Kolonien – spielen eine doppelte Rolle. Sie sind aufgrund ihres Rohstoffreichtums Objekt der Begierde, formieren sich aber, wie das Beispiel BRICS zeigt, auch als eigenständiger Akteur.
Die Folgen dieser Blockkonfrontation sind eine hochtechnologische Konkurrenz, Handelskriege, eine partielle Deglobalisierung, eine dramatische Aufrüstung bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzung an den Peripherien der Blöcke.

Umweltkrise

Die Blockkonfrontation verschärft auch die Klima- und Umweltkrise, es werden stoffliche, finanzielle und überhaupt gesellschaftliche Ressourcen verschleudert, die dringend benötigt werden, um die Folgen dieser Krisensituation aufzuhalten oder zumindest abzuschwächen. Die Zunahme der Beschädigung der Umwelt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der dramatische Anstieg der CO2 Emissionen seitdem, sind mittlerweile auch für Menschen, die sich nicht damit befassen, unübersehbar. Man kann es sich im Fernsehen bei Quarks angucken oder nachlesen.

Die Klimakrise beeinflusst uns alle – aber manche Menschen leiden stärker unter ihren Folgen als andere. In einem Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) heißt es: Eine Erwärmung um 1,5 Grad treffe benachteiligte und verletzliche Bevölkerungen überproportional stark. Dies geschieht durch unsichere Nahrungsmittelversorgung, höhere Lebensmittelpreise, Einkommensverluste, negative Auswirkungen auf die Gesundheit und durch Vertreibung von ihrem Zuhause.
Wie verletzlich Menschen sind, hängt mit ihrem Wohnort zusammen. In einem IPCC-Bericht zu Existenzgrundlagen und Armut beschreiben die Autorinnen und Autoren, dass die Erträge in der Landwirtschaft in Subsahara-Afrika und Südostasien bis 2080 wahrscheinlich stark zurückgehen werden. Das geringste Risiko für Verluste sei in Nordamerika, Europa, Ostasien, Russland und Australien zu erwarten. Da der Ertrag von Grundnahrungsmitteln wie Mais, Weizen und Hirse in verschiedenen afrikanischen Ländern schon jetzt zurückgeht und die Nahrungsmittelversorgung unsicherer wird, sind Menschen dort also stärker von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen als zum Beispiel Menschen in Europa.

Und wie wird das alles enden?

Aus dem vorhergegangenen kann man schließen, dass es sich nicht nur um Krisen IM Kapitalismus, sondern um eine Krise DES Kapitalismus handelt. Es ist schwierig, sich vorzustellen, wie der Kapitalismus diese Krise überwinden soll.

Der grüne Kapitalismus

Eine Variante stellt der grüne Kapitalismus dar. Seine/Ihre Vertreter:nnen stellen in den Mittelpunkt, dass die Verbrennung von fossilen Rohstoffen zur Gewinnung von Energie durch eine nachhaltige Erzeugung von Energie in Form von Sonnen- und Windkraft ersetzt werden soll . Dies und eventuell noch zu machende Entdeckungen, sollen dazu führen, dass die CO2 Emissionen zumindest auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werden. Diese grüne Modernisierung erfordert enorme Investitionen und hat damit auch das Potenzial neue Geschäftsfelder und damit auch neue Anlagefelder für das Kapital zu erschließen. Es sollen somit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Die großen Probleme der Menschheit werden gelöst und man kann beim Lösen der Probleme sehr viel Geld verdienen. Das alles kann, – so die Vertreter:innen dieser Position – im Prinzip im Rahmen des kapitalistischen Systems durchgeführt werden, dessen Grundprinzipien – das Privateigentum, der Markt und die Konkurrenz – nicht angegriffen werden müssen. Deswegen wird dieses Projekt auch von Teilen des Kapitals unterstützt. Ob es gelingt, auch die Bevölkerung der Zentren langfristig davon zu überzeugen, wird davon abhängen, ob im Rahmen dieser Transformation soziale Ausgleichsmaßnahmen umgesetzt werden.
Der grüne Kapitalismus ist allerdings für die Länder des Globalen Südens keine Lösung. Er setzt voraus, dass ihre Rolle als Rohstofflieferant:in perpetuiert und damit sich die Lebensbedingungen der dort lebenden Menschen weiter verschlechtern.

Die Verteidigung der fossilistischen Lebensweise

Aber der grüne Kapitalismus wird auch auf der Kapitalseite Verlierer hervorvorbringen. Diese sammeln sich um einen radikalisierten Konservatismus, der die bisherige fossilistische Produktionsweise aggressiv verteidigt. Politisch wird dieser Kampf auf der Ebene der Kultur und der Identität ausgetragen. Die sich in diesem Bereichen vollziehenden Veränderungen, werden als Bedrohung identifiziert, durch deren Abwehr die bisherige Lebensweise aufrecht erhalten werden kann.

Diese Strategie beinhaltet ein enormes Destruktionspotenzial, da es eine noch stärkere Ausbeutung von Menschen und Natur vorsieht. Die dabei entstehenden Konflikte können nur noch durch Zwang bekämpft werden. Es ist nur noch ein schmaler Schritt von Konservatismus und reaktionären Populismus hin zum Faschismus.

Ein realistischer Blick

Egal, welche Variante sich durchsetzt, wir müssen davon ausgehen, dass wir eine Reihe ökologischer Kipppunkte bereits überschritten haben, dass die geopolitischen Auseinandersetzungen andauern werden und die Linke sich – mit wenigen Ausnahmen – weltweit in der Defensive befindet.

Das macht im Kern die Hoffnungslosigkeit aus, die dazu führt, den Kampf aufzugeben. Die Komplexität der Probleme scheint übermächtig. Diese Hoffnungslosigkeit vermischt sich mit Perspektivlosigkeit. Man kann sich nicht vorstellen, wie eine bessere Zukunft aussehen soll. Die Krise scheint alternativlos, wir leben in einer Zeit der Monster.

Wenn wir alles so laufen lassen, dann wird es ein Desaster, also besteht die Aufgabe der Linken auch und gerade in dieser defensiven Situation, für eine Gesellschaft zu kämpfen, die diese Krise bewältigen kann.

Der Kampf um Demokratie

Viele Menschen sind dermaßen frustriert von dem gegenwärtigen Zustand und vor einer befürchteten Zukunft, dass sie bereit sind, einen Teil der Demokratie zu opfern, um diesen Zustand zu beenden. Sie glauben nicht, dass die Demokratie dazu in der Lage sei, weil sie die Erfahrung machen, dass sie im gegenwärtigen System eigentlich kein wirkliches Mitwirkungsrecht haben. Dies spielt den Vertreter:innen der fossilistischen Lebensweise in Kapital und Politik in die Hände. Demokratische Rechte, die in der Vergangenheit hart erkämpft wurden, zu verteidigen, ist die Voraussetzung für alle weiteren Kämpfe.

Der Kampf um Gemeineigentum

Eine weitere Aufgabe besteht darin, der Macht des Großkapitals und seinem Drang zur Kommerzialisierung aller Lebensbereiche entgegenzutreten. Wie können wir das tun? Durch die Stärkung des Gemeineigentums in seinen verschiedenen Ausprägungen: kommunal, öffentlich, staatlich und genossenschaftlich. Das verlangt den Kampf um den Aufbau eines starken öffentlichen Sektors, der eine soziale Grundsicherung in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Bildung, Ernährung, Kultur und öffentlicher Nahverkehr für alle Menschen gewährleistet, und durch die Förderung einer feministischen Pflegerevolution, die eine nicht marktwirtschaftliche öffentliche Pflegestruktur aufbaut und die Pflegearbeit zwischen Frauen und Männern umverteilt. Schließlich ist eine demokratische Planung erforderlich, um die ökologische Nachhaltigkeit unserer Produktions- und Lebensweise zu gewährleisten. Die Auseinandersetzung in diesem Feld ist aus drei Gründen wichtig.

Wir brauchen eine öffentliche Infrastruktur unter demokratischer Kontrolle, um uns uns gegen zukünftige Katastrophen zu wappnen, die sicher kommen werden, deren Auswirkungen aber unterschiedlich sind, je nachdem wie stabil diese Infrastruktur ist.

Die Rückgewinnung von bereits privatisierten Sektoren und der Ausbau und Vergesellschaftung von weiteren Bereichen schränkt die Durchdringung unseres Lebens durch die kapitalistische Logik ein und und verringerr damit die Verwertungmöglichkeiten des Kapitals.

Schließlich entstehen in den Auseinandersetzungen und Kämpfen in diesem Sektor auch Ideen und Modelle, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen kann.

Der Kampf für ein besseres Leben

Diese Ideen und Modelle, die Vorstellung, wie ein gutes Leben zukünftig aussehen kann, sind wichtig, um Motivation und Kampfbereitschaft zu entwickeln. Stadt GEGEN etwas zu kämpfen, müssen wir FÜR etwas kämpfen. Von welchem Prinzipien man sich dabei leiten lassen kann, hat zum Beispiel Raul Zelik in seinem immer noch aktuellen Buch Wir Untoten des Kapitals beschrieben.

Der Kampf um Frieden

Über allem, aber steht der Kampf um Frieden. Die Menschheit hat im Lauf ihrer lange Geschichte die Produktivkräfte soweit entwickelt, dass ein gutes Leben für alle im Einklang mit der Natur möglich ist. Aber sie hat auch die Produktivkräfte soweit entwickelt, dass durch den Druck auf einen Knopf eine atomare Katastrophe ausgelöst werden kann.

Können wir gewinnen?

Angesichts der Komplexität der Probleme und des Kräfteverhältnisses, scheint das manchmal ziemlich aussichtslos. Aber der Kapitalismus und die damit verbundene Lebensweise sind nicht Gott gegeben und sie sind kein Naturgesetz. Sie sind von Menschen gemacht und können von Menschen verändert werden. Die gegenwärtige Situation ist kein Ausdruck der Stärke des Kapitalismus, sondern ein Ausdruck seiner Schwäche. Dies macht ihn unberechenbarer, aber auch angreifbar.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass oft kleine Anlässe ausreichen, um große Veränderungen in Gang zu setzen. Unsere Stärke liegt darin, dass wir die Mehrheit sind. Die Vereinzelung aufzubrechen, sich mit anderen zu verständigen und für gemeinsame Ziele zu kämpfen, darin liegt der Schlüssel für den Erfolg.