Spanien – Willkommen im Wahljahr

Spanien - Willkommen im Wahljahr

Seit die spanische Koalitionsregierung von PSOE und Unidas Podemos Anfang 2020 ihr Amt antrat, hat sie praktisch durchgehend im Krisenmodus regiert. In den beiden Pandemiejahren gelang es vor allem durch Maßnahmen gegen Massenentlassungen und eine Ausweitung des Kurzarbeitergeldes, eine Absturz der Wirtschaft und damit verbundene soziale Folgen zu verhindern. Danach folgte unmittelbar der Krieg um die Ukraine und damit entstanden neue Probleme, mit denen das Land in ein Jahr 2023 geht, in dem auf allen Ebenen Wahlen stattfinden werden. Spanien – Willkommen im Wahljahr!

Der spanische Wumms

Die Koalitionsregierung hat es durch eine Vielzahl von Initiativen geschafft, die Krise für die Bevölkerung ein wenig abzufedern. Die Anfang des Jahres im Kongress endgültig beschlossene Arbeitsmarktreform hat dazu geführt, dass 2 Millionen befristete Arbeitsverträge in unbefristete Arbeitsplätze umgewandelt wurden. Der Mindestlohn wurde erhöht und eine Einmalhilfe für einkommensschwache Familien ausgezahlt. Ebenso wurden die Renten und die Sozialhilfe erhöht. Die Energiepreise wurden gedeckelt und eine Sondersteuer für Banken und Energieversorger eingeführt. Diese dürfen ihre Kunden auch dann nicht den Strom abstellen, wenn diese die Rechnungen nicht zahlen können. Ähnliche Maßnahmen gelten für den Wohnungsmarkt. Dort wurde ein teilweiser Mietpreisstop umgesetzt und Räumungen erschwert.

Ab September führte die Regierung kostenlose Tickets für Regionalzüge ein und subventionierte den öffentlichen Nahverkehr in den Städten und Gemeinden. Dies wird auch noch das ganze Jahr 2023 so weiter gelten. Die Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel wurde vorübergehend gestrichen.

Nicht nur die Ökonomie im Fokus

Neben den wirtschaftlichen und sozialpolitischen Maßnahmen wurde eine Vielzahl von weiteren Reformen durchgesetzt.

Eine Reihe von Gesetzen stärkt die Rechte von Frauen. Am meisten beachtet wurde das Gesetz Sí es Sí (Ja heißt Ja), das die Stellung von Vergewaltigungsopfern stärkt, indem es die aktive Zustimmung von Frauen bei jeglicher sexueller Handlung verlangt. Bisher geschah es, dass Vergewaltiger straffrei ausgingen, weil Richter in Fällen sexualisierter Gewalt argumentierten, dass die Frauen sich nicht aktiv gegen die Vergewaltiger gewehrt hätten. Die Veränderung dieser Praxis war eine Forderung, für die die Frauenbewegung in Spanien jahrelang auf die Straße gegangen war. Nun sind auch Belästigungen im öffentlichen Raum und sexualisierte Gewalt im Internet verboten. Frühkindliche sexuelle Erziehung als verpflichtendes Fach in Schulen soll erweitert werden, damit Kinder und Jugendliche mehr über ihre Körper und ihre Rechte erfahren und sexualisierter Gewalt vorgebeugt werden kann.
Ein weiteres Gesetz garantiert, dass Schwangerschaftsabbrüche in öffentlichen Krankenhäusern vorgenommen werden können. Frauen können sich künftig krank schreiben lassen, wenn sie starke Schmerzen während ihrer Menstruation haben, ein Gesetz, das es bisher nur in Spanien gibt. Zudem wird die Mehrwertsteuer auf entsprechende Hygieneartikel gesenkt.
Die Leihmutterschaft gilt in Spanien seit Mai zudem als Gewalt gegen Frauen und ist verboten.
Berufstätige Eltern können bis fünf Tage pro Jahr bei Krankheit oder Unfällen ihrer Kinder zuhause bleiben plus vier weitere pro Jahr für den Haushalt oder andere zwingende Termine. Dazu kommen zwei Monate, die Eltern sich freistellen lassen dürfen, bis die Kinder acht Jahre alt sind. Für Mütter, die arbeiten, gibt es einen Bonus von 100 Euro monatlich. Dies alles gilt ebenso für Alleinerziehende, die nun auch Zugang zu vielen staatlich geförderten Rabatten bekommen, die bisher nur Familien mit vielen Kindern zustanden.
Im Strategischen Plan für die effektive Gleichheit von Männern und Frauen 2022–2025 hebt die Regierung die Bedeutung der feministischen Belange für ihre zukünftige Politik hervor. Unter anderem sollen zukünftig 4,4 Prozent des spanischen Haushaltes in die Gleichstellungspolitik fließen. Unternehmen werden verpflichtet, die Löhne aller Beschäftigten mitzuteilen, und mit einer Strafe belegt, wenn sie Frauen für die gleiche Arbeit einen niedrigeren Lohn als den Männern zahlen.

Enorme Veränderung gibt es auch in der Haltung zur LGTBI+ Community. So können zukünftig Menschen ab 16 Jahren ihr Geschlecht und ihren Vornamen selbst bestimmen. Sogenannte Konversionstherapien, die davon ausgehen, dass LGBTI+ Personen krank seien und eine »Heilung« benötigten, sind jetzt verboten und können mit einer Geldstrafe von bis zu 150.000 Euro geahndet werden.

Alberto Garzón setzt als Minister für Konsum und Verbraucherschutz darauf, die Nachhaltigkeit des Lebensmittelsystems zu fördern und die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Zu den Neuerungen der vom Ministerrat verabschiedeten Verordnung gehören Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung und Überverpackung. So müssen beispielsweise Bars und Restaurants ihren Kunden ohne zusätzliche Kosten die Möglichkeit bieten, Lebensmittel, die nicht an Ort und Stelle verzehrt wurden, mitzunehmen. Zu diesem Zweck stellen sie wiederverwendbare, kompostierbare oder leicht zu recycelnde Behälter zur Verfügung oder akzeptieren die vom Kunden bereitgestellten Behälter.
Die Werbung für zuckerhaltige Lebensmittel und Getränke, wird stark eingeschränkt, und zielt darauf ab, die Fettleibigkeitsrate von Kindern bis 2030 um 25 Prozent zu senken. Bereits verboten ist die Werbung für Sportwetten innerhalb einer bestimmten Tageszeit und auch das Verbot für Sportvereine, auf Trikots dafür zu werben. In einer Kampagne gibt das Ministerium Empfehlungen für den geschlechterneutralen Umgang mit Spielzeug.

Auch in Bezug auf die Aufarbeitung der Franco-Diktatur ist die progressive Regierung vorangekommen. Das Ley de Memoria Histórica (Gesetz zur Erinnerung an die Geschichte) von 2007, das nie richtig umgesetzt wurde, wurde wieder aufgenommen und reformiert. Das neue Ley de Memoria Democrática (Gesetz zur demokratischen Erinnerung) enthält in seinem ersten Artikel die Ablehnung und Verurteilung des Militärputsches vom Juli 1936 und der Franco-Diktatur, und erklärt auch ausdrücklich die Nichtigkeit der Verurteilungen und Sanktionen, die von den franquistischen Gerichten ausgesprochen wurden.

Der spanische Staat übernimmt explizit die Verantwortung für die Suche nach den während des Krieges und der Diktatur verschwundenen Personen und die Exhumierung von Massengräbern. Dazu gehören die Einrichtung einer Nationalen DNA-Bank und die Zählung der Opfer des Bürgerkriegs und der Diktatur sowie der Schutz von Dokumenten, die sich auf den Krieg beziehen, und die Gewährleistung des Rechts auf Zugang zu diesen Dokumentensammlungen zu Konsultations- und Forschungszwecken.

Das Recht auf die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen während des Krieges und der Diktatur wird durch die Schaffung einer Staatsanwaltschaft für Menschenrechte und demokratische Erinnerung zur Untersuchung dieser Ereignisse gewährleistet.

Die Zeitung El Diario schreibt zum erwarteten Effekt dieses Gesetzes:

Es muss gewährleistet sein, dass alle Generationen erfahren können, wie unsere Demokratie entstanden ist und wie wir sie erreicht haben. Das neue Gesetz wird in den Schulen das Wissen über das demokratische Gedächtnis einführen, und niemand wird mehr in der Lage sein, ein verbrecherisches Regime zu verherrlichen, wie es die Spanier jahrzehntelang erlitten haben. Die Lektüre der dunkelsten Seiten unserer Geschichte ist schmerzhaft, aber notwendig, um eine Wiederholung zu verhindern. Dies ist ein gutes Gesetz. Unterstützen wir es von ganzem Herzen.

44 Jahre nach seinem Tod wurde der Leichnam von Franco aus dem Valle de los Caidos entfernt und seine Familie zur privaten Bestattung übergeben. Das Valle de los Caidos war seit dem Ende der Diktatur ein Symbol des Faschismus, zu dem die Faschisten jedes Jahr zu Francos Geburtstag einen Aufmarsch inszenierten. Damit hat es nun ein Ende.

Auch die zahlreichen Straßen und Plätze in den Städten und Dörfern, die nach Franco oder dessen Gefolgsleute benannt sind, werden nun nach und nach umbenannt.

Die Lage in Katalonien

In der Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit von Katalonien hat die progressive Regierung einige Schritte unternommen, um die Lage etwas zu entspannen. Bereits 2021 wurden die wegen Hochverrat und anderer Delikte verurteilten katalanischen Politikerinnen und Politiker begnadigt. Ende 2022 wurden durch eine Strafrechtsreform, die das spanische Strafrecht an das europäische anpasste, die Strafandrohungen für noch ausstehende Verfahren drastisch verringert.

Das Lager der Unabhängigkeitsbewegung hat sich mittlerweile gespalten. Auf der einen Seite die Fraktion um den ehemaligen Ministerpräsidenten Puigdemont, der nach wie vor eine harte Linie der Nichtverhandlung verfolgt und auf der anderen Seite die ERC, die einschätzt, dass der Kampf um die Unabhängigkeit in eine neue Etappe eingetreten sei und dass gegenwärtig eine einseitige Unabhängigkeitserklärung nicht sinnvoll und nicht durchsetzbar wäre. Dies hat auch dazu geführt, dass die katalanische Regionalregierung zerbrochen ist und nun eine Minderheitsregierung fortgeführt wird.

In der Bevölkerung Kataloniens macht sich Ermüdung breit. Andere Probleme überlagern die Frage der Unabhängigkeit im Alltag und es wird weniger auf der Straße darüber diskutiert. Die Umfragen zeigen, dass die Unterstützung abnimmt und auch die Massenmobilisierung gelingt nicht mehr in dem Maße wie in den letzten Jahren. Das hat im Ergebnis dazu geführt, dass man nun einschätzen kann, dass der Procès, die Phase der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zwischen 2012 und 2021 zu einem Ende gekommen ist.

Superwahljahr 2023

im Mai 2023 stehen im gesamten Land Kommunalwahlen und in 12 der 17 Comunidades Landtagswahlen an. Im Dezember schließlich wird der Nationale Kongress und der Senat gewählt.
Nach den Überraschungserfolgen der Linken bei den Kommunalwahlen 2015 ging eine Stadt nach der andern verloren. Von den großen Städten werden lediglich Cadiz, Valencia und Barcelona noch von der Linken um Uinidas Podemos regiert. In Barcelona wird es wohl ein Kopf an Kopf Rennen geben, aber noch hat Ada Colau, die gegenwärtige Bürgermeisterin gute Chancen.

Wie die Landtagswahlen in den einzelnen Comunidades ausgehen, ist völlig offen. Gegenwärtig werden von den 12 Autonomen Gemeinschaften, in denen gewählt wird, sieben von der PSOE regiert, vier von der PP und eine von den Ciudadanos. Unidas Podemos ist in fünf Länderregierungen im Rahmen einer Koalition vertreten.

Von den Regionalwahlen wird natürlich eine Signalwirkung auf die nationalen Wahlen ausgehen. Auch deren Ausgang ist weitgehend offen. Die Rechte und die Extreme Rechte haben in den vergangenen Jahren ein politisches Klima erzeugt, das durch Blockade, Obstruktion und offene Lügen gekennzeichnet ist. Im Kongress, wie in der Presse wird die Regierung abwechselnd als illegitim, illegal oder sozial-kommunistisch tituliert und ihr Rücktritt gefordert. Im Justizapparat blockiert, die Partido Popular seit vier Jahren die Neubesetzung von Stellen, die dazu führen würden, dass sie ihre bisherige Mehrheit in den obersten Gerichten verlieren würde.

Es ist erstaunlich, was die progressive Regierung unter diesem Druck alles geleistet hat. Im Jahr 2022 ist die spanische Wirtschaft um rund 5 % gewachsen, die Arbeitslosigkeit hat sich verringert und dies inmitten der Energiekrise infolge des Krieges um die Ukraine und nach zwei Jahren Pandemie.

Trotz dieser Daten bezeichnen 47,9 % der Befragten des CIS-Barometers vom November die wirtschaftliche Lage in Spanien als „schlecht“ und 22,4 % als „sehr schlecht“, während 18,8 % sie als „gut“ bezeichnen.

Mit anderen Worten: Trotz dieser Zahlen gewinnen die Menschen den Eindruck, dass alles schlecht läuft. Dies zeigt von welcher Herausforderung die Kräfte links von der PSOE stehen.

Die Präsenz von Unidas Podemos in der Exekutive hat Druck auf die PSOE ausgeübt, ohne den viele dieser oben beschriebenen Maßnahmen nicht umgesetzt worden wären. Aber gleichzeitig ist dies auch nicht ohne Auswirkungen auf den Zustand speziell von Podemos geblieben. Während dieses Prozesses hat sich die Partei mehrere Male gespalten und einen Teil seiner Wählerschaft damit verloren.

Dabei wird die Frage, in welcher Formation die Linke jenseits der PSOE zu Wahlen antritt, entscheidend sein, ob es wieder die Möglichkeit geben wird, die progressive Regierung fortzuführen.

Hierbei ruhen die Hoffnungen vor allen Ding auf Yolanda Díaz und Sumar. Yolanda Díaz ist mit den Reformen, die sie in ihrem Bereich durchgesetzt hat, eine der Architektinnen der Erfolge der Regierungskoalition. Mit der politischen Plattform Sumar arbeitet sie daran, dass die gesamte Linke gemeinsam zu den Wahlen antritt. Dies hat bei den progressiven Wählern und Wählerinnen wieder Begeisterung ausgelöst, auch wenn viele noch nicht ganz verstehen, worum es geht.

Sumar wird nur auf nationaler Ebene antreten. Für die Kommunal- und Regionalwahlen bilden sich jedoch bereits in verschiedenen Landesteilen breite Bündnisse, Das ist auch notwendig. Schließlich gibt es für die Kräfte auf der linken Seite der PSOE nur einen Weg nach vorne. Und das ist die Einheit.