Am 15.Mai 2011, dem 15M – vor zehn Jahren, zogen eine Handvoll Teilnehmer einer Demonstration durch mehrere Straßen im Zentrum Madrids und beschlossen anschließend, den Protest zu verlängern, indem sie auf der Puerta del Sol Zelten würden, eine Entscheidung, die die spanische Politik bis heute nachhaltig beeinflussen sollte und das Ende der Zweiparteienpolitik einläutete.
Die Parolen „wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern„, „sie repräsentieren uns nicht“ oder „sie nennen es Demokratie und es ist keine“ – lockten immer mehr Menschen auf die Puerta del Sol, verbreiteten sich in andere Städte und mündeten in Volksversammlungen, die dezentral in den Stadtvierteln und Städten verstreut waren und von denen viele schließlich mit Sektoren der traditionellen Linken in den Mareas zusammenkamen, um die öffentliche Gesundheit oder die öffentliche Bildung zu verteidigen.
In Anlehnung an den Titel des Buches „Empört Euch“, (spanisch ¡Indignaos!“)- geschrieben knapp ein halbes Jahr zuvor von dem Franzosen Stéphane Hessel, Überlebender der Nazi-Konzentrationslager Buchenwald und Dora-Mittelbau und Autor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – bekamen sie bald einen Namen: die Indignados, oder auch nur einfach der 15M.
Son los nuestros
Die Indignados wollten nicht rechts oder links sein, sie hatten kein Vertrauen zu den politischen Parteien beider Seiten. Aber Julio Anguita, einer großen Köpfe der spanischen Linken, sah bereits wenige Tage nach dem Beginn der Proteste, an denen er sich auch in seiner Heimatstadt Córdoba selbst beteiligte, was daraus entstehen würde. In einer mittlerweile historischen Analyse der Vorgänge schrieb er, Son los nuestros (Es sind die Unsrigen).
Die unmittelbaren Folgen
Zunächst hatte der 15M keine unmittelbare Auswirkung. Bei den folgenden Wahlen 2011 erzielte die spanische Rechte ihr bestes Ergebnis seit 1978, die PSOE erlitt eine dramatische Niederlage.
Aber bereits bei den Europawahlen im Mai 2014 begann 15M auf eine andere Weise sichtbar zu werden. Aus Anlass dieser Wahl entstand eine neue politische Kraft, Podemos. Sie errang aus dem Stand knapp 8% der Stimmen für das Europaparlament. Und obwohl es bei dieser Wahl aus der Perspektive der Machtausübung nur um sehr wenig ging, da es sich ausschließlich um Europawahlen handelte, war die politische Wirkung enorm. Die Abdankung von Juan Carlos I. war ein guter Beweis dafür. Die Reaktion des Königshauses auf das Wahlergebnis zeigte, dass man auf der Seite der Macht verstanden hatte, dass das Ende einer Ära erreicht war.
Wahlen 2015
Dieses Ende einer Ära zeigte sich im folgenden Jahr bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Mai und bei den Parlamentswahlen im Dezember. Die Linke eroberte zahlreiche Städte, in denen sie Bürgermeister*innen stellte, unter anderem mit Manuela Carmena in Madrid und Ada Colau in Barcelona.Das Zweiparteiensystem der ersten drei Jahrzehnte der Verfassung wurde zwar nicht abgeschafft, aber erkennbar abgebaut. PP und PSOE blieben zwar weiterhin die wichtigsten Parteien auf der Rechten und auf der Linken, aber sie verloren ihre fast monopolistische Stellung. Von nun an würden sie mit anderen Akteuren konkurrieren müssen.
Im Jahr 2015 verschob sich auch das Kräfteverhältnis zwischen der Rechten und der Linken zu Gunsten der Letzteren. Bei allen Parlamentswahlen seit 2015 hat die spanische Rechte keine parlamentarische Mehrheit mehr in der Regierung.
Misstrauensvotum 2018
Diese fehlende Mehrheit setzte sich 2018 in praktische Politik um. Nach dem Urteil des Nationalen Gerichtshofs im Fall Gürtel im Jahr 2018 und der damit verbundenen enormen Empörung in großen Teilen der Bevölkerung traute sich die PSOE, einen Misstrauensantrag gegen die konservative Regierung von Rajoy zu stellen und gewann ihn mit Hilfe der restlichen Linken und regionalen Parteien
Mit dem Misstrauensantrag von 2018 entstand unter der Führung von Pedro Sánchez eine Regierung links von der PP, die bei den beiden später im Jahr 2019 stattfindenden Parlamentswahlen bestätigt werden sollte. In allen Fällen handelte es sich um eine heterogene parlamentarische Mehrheit, vereint in einem durchschlagenden NEIN zur Rechten, aber sonst in wenig einig, was das Regierungshandeln anbelangte.
Der schwierige Weg zu einer Koalitionsregierung
Nach der Misstrauensantrag von 2018 bildete die PSOE zunächst eine Minderheitsregierung unter Duldung von Unidas Podemos und der übrigen Linken Kräfte.
Im April rief die PSOE vorgezogene Neuwahlen aus, nachdem sie ihren Haushaltsentwurf nicht im Parlament durch bringen konnte. Das Ergebnis war ein Erstarken der Linken, vor allen Dingen der PSOE, und eine krachende Niederlage der PP. Aber vor allem zwei Dinge zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Die Ciudadanos erreichten ein historisches Ergebnis und veränderten (vorübergehend) das Machtgefüge in der rechten. Und mit der Vox zog zum ersten Mal in der Demokratie eine ultrarechte Partei ins Parlament ein. Spätestens mit diesem Ergebnis stand die Frage einer Koalition zwischen PSOE und Unidas Podemos im Raum.
Aber es sollte eine weitere Wahl benötigen, bis es im November 2019 zu einem Eintritt von Unidas Podemos in eine Koalitionsregierung kam.
Regieren unter schwierigen Bedingungen
Die Jahre der Regierung von Pedro Sánchez waren und sind Jahre des Lernens der Koalitionsregierung, de facto seit 2018 und de iure seit den Wahlen im November 2019. Ein Lernen, das inmitten einer Pandemie und den damit verbundenen Auswirkungen stattfand.
Unter den gegebenen Voraussetzungen hat sich die Koalitionsregierung, die von der spanischen Linken als die progressivste Regierung Europas gesehen wird gut geschlagen.Das kann man an der Art und Weise festmachen, wie auf die durch COVID-19 ausgelöste Krise überhaupt reagiert wurde. Der Unterschied zwischen der Herangehen, wie im Jahr 2020 auf die Krise reagiert wurde, und der Art und Weise, wie im Jahr 2008 versucht wurde, die Finanzkrise zu lösen, ist offensichtlich. Aber auch der Allgemeine Staatshaushalt, das Celáa-Gesetz (Bildungsreform), das Euthanasiegesetz, das Gesetz zum Klimawandel und das Gesetz, das dem Verfassungsbetrug der PP und der konservativen Mehrheit des amtierenden Generalrats der Justiz ein Ende setzt, wurden mit einer sehr großen absoluten Mehrheit angenommen, und bei der Bearbeitung mehrerer anderer Gesetzentwürfe zur Arbeitsreform oder zur Transsexualität wurden Fortschritte erzielt. Nichts von alledem wäre ohne den 15M möglich gewesen.
Die Akteure des 15M
Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der 15M die spanische Politik und die Gesellschaft umgekrempelt hat. Neue Organisationen und Organisationsformen entstanden zahlreiche Akteure betraten die politische Bühne.
Podemos
Da ist in erster Linie natürlich Podemos zu nennen. 2014 veröffentlichte die Online Zeitung Público einen Beitrag Mover ficha: convertir la indignación en cambio político (etwa: Der nächste Zug: die Empörung in politische Veränderung transformieren), in dem zahlreiche Menschen aus dem Umfeld des 15M aufriefen, zu den Europawahlen zu kandidieren, um „dem Volk die Souveränität zurückzugeben“.
Der Erfolg war spektakulär. Nach dem überraschenden Einzug ins Europaparlament, nahm Podemos einen Höhenflug, der die Partei (oder besser damals noch Bewegung) davon träumen ließ, die PSOE zu überflügeln und stärkste linke Kraft in Spanien zu werden.
Im Januar 2015 rief die Partei zu einer Demonstration nach Madrid auf, die explizit keine Forderungen stellte, sondern die Macht von Podemos demonstrieren sollte. und wer, wie ich und 300.000 andere, an diesem 31. Januar 2015 an der Puerta del Sol war, der spürte, dass Veränderung möglich ist.
Bei den Parlamentswahlen 2015 wurde sie mit etwas über 20 % der Stimmen drittstärkste Kraft. Danach ging es mit der Stimmenzahl bei den Wahlen immer weiter nach unten und in der letzten Wahl, die sie, seit 2016 in einem Bündnis mit der Izquierda Unida, in die Regierung führte erreichte sie ist 13 %.
Podemos wird seit seiner Gründung bis heute von den Rechten Medien, den Rechten Parteien und von Teilen der Justiz und des Polizeiapparats mit einer Schmutzkampagne nach der andern überzogen. Zwar hat sich bisher keine der Anschuldigungen als gerechtfertigt herausgestellt, aber natürlich bleibt immer irgendetwas in der öffentlichen Meinung hängen. Das erklärt zum einen das Sinken der Wählerzustimmung zu Podemos (inzwischen Unidas Podemos). Zum andern hat sich Podemos seit seiner Gründung von 2014 bis heute auch mehrmals gehäutet und dabei jeweils Wählerpotential verloren.
Bei der Gründung fanden sich grob gesagt drei Strömungen zusammen, die sich im 15M getroffen und gemeinsam protestiert hatten.
Die erste Strömung setzte sich aus Menschen zusammen, die früher in der kommunistischen Jugend aktiv, mit dem damaligen Kurs des PCE und der Izquierda Unida nicht zufrieden waren. Stellvertretend für diese Strömung kann man Pablo Iglesias nennen.
Eine zweite Strömung bestand aus den Antikapitalisten, eine Formation deren Ursprung sich bis in den franquistischen Widerstand zurückverfolgen lässt und die eher trotzkistische orientiert waren. Hier wäre Teresa Rodriquez stellvertretend zu nennen.
Die dritte Strömung schließlich orientiert sich stark an den Erfahrungen der Lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen. Hierfür steht Iñigo Errejon.
Ideologisch definierte sich die Podemos zunächst als transversal, und folgte damit den politischen Ansatz von Ernest Laclau und Chantal Mouffe. Diese sprechen nicht in erster Linie von Klassengegensätzen, nicht von links und rechts, sondern der Gegensatz besteht zwischen oben und unten, zwischen dem Volk und der Kaste.
Unter dem Einfluss von Pablo Iglesias und bedingt durch Veränderungen in der traditionellen spanischen Linken, die vor allen Dingen mit den Namen Alberto Garzón und Enrique Santiago zusammenhängen näherte sich Podemos immer stärker traditionellen linken Position an, bis es 2016 zu einem Wahlbündnis kam, das seitdem immer stärker zusammenwuchs.
Diese Kursänderung führte schließlich zu einer Abspaltung des Errejón-Flügels, der sich in einer neuen Partei Mas País organisierte. Auch die Antikapitalisten trennten sich von Podemos in der Auseinandersetzung um die Frage der Nützlichkeit einer Regierungsbeteiligung und sind inzwischen wieder eine eigenständige Partei.
Misst man Podemos an den Ergebnissen, so ist es eine Erfolgsgeschichte, wenn auch unter erheblichen Opfern erkauft. Die fünf Minister*innen von Unidas Podemos in der heutigen Regierung wären ohne den 15M nicht denkbar.
Izquierda Unida und PCE
Die Izquierda Unida (IU) und der PCE konnten zunächst mit dem 15M und vor allen Dingen mit der neu erstandenen Konkurrenz Podemos nicht viel anfangen. Das änderte sich, als Alberto Garzón, mit damals 26 Jahren selbst einer der Teilnehmer der Proteste des 15M, im Jahr 2016 die Führung der IU übernahm. Er war es, der den Gedanken der Einheit der Linken in das Zentrum seiner Strategie stellte. Unterstützung fand er in Enrique Santiago, der 2018 zum Generalsekretär des PCE gewählt wurde. Als Ergebnis dieser Strategie ist heute die IU und Podemos zu Unidas Podemos zusammengewachsen, ohne dass die beiden Organisationen ihre Eigenständigkeit aufgegeben hätten. Aber in den politischen Aussagen sind sie eigentlich nicht mehr zu unterscheiden.
Dieser Kurs der IU ist allerdings nicht unumstritten. Vor allen Dingen in Madrid wehrt sich die Führung der IU erbittert gegen den Kurs von Alberto Garzón und Enrique Santiago
Lokale und regionale Vereinigungen
Auf lokaler und regionaler Ebene sind zahlreiche Parteien, Gruppierungen und Organisationen in Folge des 15M entstanden, die man gar nicht alle auf zu zählen kann ohne diesen Artikel zu sprengen. Paradebeispiel ist immer wieder Barcelona mit ihrer herausragenden Bürgermeisterin Ada Colau, eine der Teilnehmerinnen des 15M und Gesicht und treibende Kraft der Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH).
15M – In 10 Jahren
Vieles, was man sich von dem 15M erhofft hat und was damals in der Euphorie machbar erschien, hat sich nicht eingelöst. Er hat das zwei Parteien-System gesprengt, aber wird das so bleiben oder gibt es einen Rückschritt? Die Linke ist an der Regierung, aber ist sie an der Macht? Wird die Strategie der Einheit der Linken Bestand haben oder setzen sich ihre Gegner durch? Wie entwickelt sich die Ultrarechte in Spanien weiter?
Gleich wie diese Fragen in der Zukunft beantwortet werden,steht fest dass die Bewegung des 15M eine wichtige Etappe in Richtung des gesellschaftlichen Fortschritt in Spanien gewesen ist, sie große Persönlichkeiten und wichtige gesellschaftliche Organisationen hervorgebracht hat.
15M zum Nachhören
Der Radiosender Carne Cruda hat anlässlich des Jahrestages eine Podcast-Serie veröffentlicht, in der verschiedene Aspekte wirklich gut beleuchtet werden.